Interview mit Sabine Kebir, geführt von David Salomon zu:
Mein Herz liegt neben der Schreibmaschine
Ruth Berlaus Leben vor, mit und nach Bertolt Brecht
Editions Lalla Moulati, Algier 2006
D. S.: Sie haben seit dem Erscheinen Ihres Buchs „Ein akzeptabler Mann?“ 1987 immer wieder zu Bertolt Brechts Frauen gearbeitet. Es erschienen Ihre Biographien über Elisabeth Hauptmann und Helene Weigel, ihre jüngste Arbeit behandelt Ruth Berlau. Nicht erst seit John Fuegis Buch „Brecht & Co“ wird immer wieder die Auffassung vertreten, Brecht habe seine Mitarbeiterinnen abhängig gemacht und ausgebeutet. Ähnliche Ansichten vermittelte auch Jan Schüttes Film ´Abschied`. War Ruth Berlau ein „Opfer Brechts“?
Die weltweit kursierenden Bilder der weiblichen Opfer Brechts sind Fiktionen, konstruiert aus Halbwissen, Anekdoten und Phantasie. Der Film ´Abschied` führt Anekdötchen aus mindestens sieben Jahren auf den Zeitraum weniger Tage vor Brechts Tod zusammen. Er will die erotische Dramatik bestätigen, die das Publikum durch John Fuegis Brecht-Biographie ´Leben und Lügen Bertolt Brechts` und andere Publikationen schon zu kennen meint. Wegen seiner guten Darsteller wirkt der Film glaubhaft. Gerade in seinen unerhörtesten Punkten entspricht er jedoch nicht den Fakten. Z. B. wurde Wolfgang Harich Monate nach Brechts Tod verhaftet. Er war nie Gast in Buckow, auch nicht zusammen mit seiner früheren Frau Isot Kilian, die Brechts letzte Freundin war. Daß der Film Helene Weigel als Zuträgerin der Stasi zeigt, ist eine Erfindung. Auch die Szene, in der die Weigel ihren am Eßtisch sitzenden ´Konkurrentinnen` verbittert vorrechnet, wie viele Jahre sie schon für sie gekocht hätte, ist eine Fiktion von Westlern, die sich den Brecht-Clan einfach als Vorläufer der eigenen Schmuddel-Kommunen von 1968 denken. In Wirklichkeit war der Clan eher ein Vorläufer der heutigen Single-Gesellschaft. Wenn es finanziell irgend möglich war, lebten diese Leute unabhängig voneinander. Brecht selbst meinte am besten arbeiten zu können, wenn er ganz allein lebte. Über sein reales Sexleben gibt es kaum Quellen, aber eine ungeheuer aufgeblasene öffentliche Phantasie. So sprechen die FBI-Akten in den USA nur von einer „mistress“ namens Ruth Berlau. Obwohl ich mich seit vielen Jahren mit dem Thema ´Brecht und die Frauen` befasse, habe ich nur sehr wenige und im Grunde vage Informationen zum Thema Sex gefunden. Viel interessanter war für mich auch Brechts Philosophieren darüber. Denn er war Teil der Bewegung von Künstlern und Intellektuellen, die mit Freud verstanden hatten, daß Sexualität und Moral nur über den Preis von Unterdrückung – vor allem der Frauen – in Übereinstimmung zu bringen sind. Bei Homosexuellen werden mehrere Partner heute als etwas Normales gesehen. Daß Brecht versucht hat, als Heterosexueller mit diesem Problem sowohl im Leben als auch in der Theorie etwas offener umzugehen, habe ich immer für einen legitimen Avantgardismus gehalten. Leider war es seit dem Ende der Weimarer Republik in Deutschland nicht möglich, damit so offen und kreativ zu verfahren, wie es Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre in Frankreich tun konnten.
Ich wundere mich darüber, wenn viele es heute noch für unmoralischer halten, daß Brecht zeitweise Liebesbeziehungen zu mehreren Frauen unterhielt, anstatt regelmäßig das Bordell zu besuchen. Die sexuelle Selbstbestimmung der Individuen, die zu seinen Wertvorstellungen gehörte, impliziert eine aktive Rolle der Frauen auch in der Werbung, aber natürlich auch ihr Recht, abzulehnen. Sich überschneidende Partnerschaften bedeuteten bei Brecht keineswegs fehlende soziale Verantwortung, was sich gerade am Fall Ruth Berlaus gut beobachten läßt. Sie verkörperte den neuen, aktiven Frauentyp. Es war Brecht, der sich zweieinhalb Jahre einer Liebesbeziehung versagte. Die spätere Enge und Unauflöslichkeit der Beziehung beruhte – was viele Brecht-Biographen unbeachtet lassen – auf Zwängen des Exils, aber auch auf einer besonderen psychischen Labilität Ruth Berlaus, die Brecht zunächst für leicht behebbar hielt. Sie litt an Angstzuständen und Konzentrationsschwäche, die sie hinderten, ihre Talente als Schauspielerin, Regisseurin, Autorin und Fotografin voll zu entfalten. Brecht glaubte, das Leiden ließe sich durch bestimmte Übungen, durch Einbindung in Kollektive u.s.w. überwinden.
D. S.: Im Zentrum ihrer Analyse dieser Arbeits- und Liebesbeziehung steht die Behauptung, Ruth Berlau habe an einer schweren psychischen Erkrankung gelitten.
Durch die vielen Quellen, die ich durchforscht habe, wurde ein Krankheitsbild sichtbar, das heutige Psychiater wahrscheinlich als Borderline-Syndrom diagnostizieren würden. Es wird nicht in erster Linie auf das Versagen von Lebenspartnern zurückgeführt. Man glaubt, daß es durch genetische Veranlagung oder auch durch schwere Erlebnisse wie Mißbrauchserfahrung in der Kindheit entsteht. Eine familiäre Disposition kann bei Ruth Berlau unterstellt werden, da ihre Schwester Edith an einer ähnlichen Erkrankung litt. Nach einem Selbstmordversuch aus Liebeskummer wurde sie für schizophren erklärt und 15 Jahre zunächst ´lebenslänglich` in eine Nervenklinik gesperrt. Heute würde man anders diagnostizieren und anders behandeln. Charakteristisch für das vielschichtige Krankheitsbild der Borderliner ist, daß sie mit Konzentrationsstörungen und mangelndem Identitätsgefühl aufwachsen. Letzteres versuchen sie als Erwachsene zu kompensieren in symbiotischen Liebesbeziehungen zu Menschen, die sie für stärkere Persönlichkeiten halten. Aus einem Jugendtagebuch von Ruth Berlau geht hervor, daß der symbiotische Liebeswunsch auch ihre Ehe mit einem sehr viel älteren und angesehenen Arzt prägte, der sich ihrer Meinung nach ihr nicht intensiv genug zuwandte. Sogar auf seine Kinder aus erster Ehe war sie eifersüchtig. Obwohl er erst Professor wurde, nachdem sie sich von ihm getrennt hatte, nannte sie sich später oft „Ehefrau von Professor Robert Lund“. Sie kompensierte damit etwas, was ihr – so meinte sie – selbst fehlte. Auch ihre Liebhaber mußten anerkannte Persönlichkeiten sein, weshalb sie sich in ihren späten autobiographischen Aufzeichnungen mehrfach als „Snob im Bett“ bezeichnete.
Was an ihr hat Brecht denn angezogen?
Ruth Berlau war Teil einer Linksbewegung der damaligen dänischen Intellektuellen. Selbst viele Künstler am Königlichen Theater am Kongens Nytorf waren antiroyalistisch und sogar sowjetfreundlich eingestellt. Das Theater stellte Räume, Requisiten und Kostüme für Arbeiterlaientruppen zur Verfügung. Manche königliche Schauspieler traten mit Rezitationen oder Songs vor oder nach Aufführungen solcher Truppen in Arbeiter- oder Seemannsclubs auf. Berlau, die sich als Schauspielerin wegen ihrer Konzentrationsprobleme nicht wohl fühlte, führte in solchen Arbeiterlaientrupps Regie. Sie selbst hat immer auf die wertvollen Verbindungen hingewiesen, die sie Brecht ab 1933 in die dänische Künstler- und Laienszene geebnet habe. Dazu muß gesagt sein, daß ihn diese Szene schon vor ihr kontaktiert hatte und daß er auch von anderer Seite – vor allem von der damals weltberühmte Autorin Karin Michaelis – substantielle Hilfe bekam. Aber nachdem 1935 klar war, daß professionelle Bühnen auf Druck Deutschlands und dänischer Nazis keine Brecht-Stücke mehr aufführen würden, waren dann Berlaus Inszenierungen von Szenen aus ´Die Mutter`, ´Die heilige Johanna der Schlachthöfe`, ´Die Gewehre der Frau Carrar und ´Furcht und Elend des Dritten Reiches`, die einzige Form, in der sein aktuelles Werk in seinem Exilland zur Geltung kam. Zur Liebesbeziehung kam es, nachdem die Inszenierung der ´Mutter` mit Arbeiterlaien zustande gekommen war. Es war aber nicht nur Dankbarkeit, die Brecht an Ruth Berlau anzog. Sie stellte das Problem der Frauen, ein selbstbestimmtes Geschlechtsleben führen zu können in besonders scharfer und widerspruchsgeladener Form. Mit ihrem Roman ´Videre` und der dann schon mit Brecht zusammen geschriebenen Novelle ´Regen` über die Schwester packte sie das Problem auch mit großem Mut literarisch an. Welche Relevanz diese Fragestellung für Brecht hatte, zeigt sich darin, daß der damals entstehende Weltanschauungskatechismus, der sich als ´Me-ti`, bzw. ´Buch der Wendungen` gegen das sich immer dogmatischer präsentierende Theoriegebäude des Sowjetmarxismus wandte, um eine Abteilung ´Geschlechterverhältnisse` erweitert wurde: die für Ruth Berlau geschriebenen Lai-Tu-Aphorismen.
D. S.: In Brechts oftmals autoritär wirkenden Texten für Ruth Berlau sehen Sie ein Indiz dafür, dass er so etwas wie eine behavioristische Verhaltenstherapie versucht habe, die deshalb scheitern musste, weil eine Liaison von Patient und Therapeut fatale Folgen haben kann. Wie belegen Sie die Thesen?
In einer Zeit, in der die faschistischen Bewegungen unter dem Vorwand der Volkshygiene versuchten, den geistigen Boden für Euthanasie psychisch Kranker zu schaffen, hing Brecht der entgegengesetzten Strömung an, die Pathologisierung und Isolierung von Menschen mit psychischen oder sozialen Anomalien ablehnte. Schon allein, was als normal oder unnormal gilt, war aus dieser Sicht fragwürdig. Solche Menschen sollten in die normalen Lebens- und Arbeitsprozesse einbezogen bleiben. Auf Berlaus ständige Angst, dasselbe Schicksal wie ihre Schwester erleiden zu müssen, erwiderte er, daß sie Konzentration und ein Verhalten lernen könne, die das verhindern würden. „Lehre mich“, sagte Lai-tu zu ihrem Lehrer Kin-Je. Es ging um nicht weniger als die Bearbeitung ihrer Alkoholprobleme und einer damit offenbar im Zusammenhang stehenden Sexsucht. In dem Gedicht ´Wenn sie trinkt fällt sie in jedes Bett` (ca. 1937) zeigt sich, daß Brecht diese Phänomene als Drogen gegen ihre Ängste verstand. Die beiden schlossen eine Art Vertrag, der einem Therapievertrag ähnelte. Er schrieb Brecht allerdings mehr Autorität und Verantwortung zu, als er zunächst ahnte. Berlaus Konzentrationsvermögen meinte er zu stärken, indem er ihr – wesentlich intensiver als Margarete Steffin – beim Schreiben half und sie in sein ´Kollektiv` einbezog. Er unterschätzte aber die genetischen und/oder famliengeschichtlichen Ursachen psychischer Leiden und damit auch ihre Stärke. Vor allem war er sich nicht bewußt, daß er durch die Parallelität von Therapie- und Liebesverhältnis Ruth Berlau nicht selbständiger, sondern abhängiger machte – und zwar von sich selbst. Zunächst löste sie sich aus ihrer unglücklichen Ehe und stabilisierte sich beruflich. Doch schon im finnischen Exil zeigte sich, daß sie nun ohne die ausschließliche Zuwendung Brechts nicht leben konnte. Nachdem sie ihre selbständige Arbeit und andere Freundschaften aufgegeben hatte, verkraftete sie es nicht mehr, daß er sich weder von Helene Weigel noch von Margarete Steffin lossagte. Der erste massive Krankheitsschub äußerte sich in ständigem Wechsel von Depressivität und Wut- und Haßausbrüchen sowie etlichen Skandalen. Indem sie offen als seine Geliebte auftrat, setzte sie nicht nur die Solidarität der damals wohl recht prüden Finnen mit der Gruppe aufs Spiel, sondern schädigte die arme Steffin und natürlich Brechts Familie schwer. Diese Konstellation blieb bis zu Brechts Tod erhalten.
D. S.: Wie sah Brechts ´Therapie` aus und welche Konsequenzen zog er aus ihrem Scheitern?
Als er Ruth Berlau 1933 kennenlernte, stand er bereits dem Behaviorismus nahe – den Anfängen der Verhaltenslehre und –therapie des Amerikaners John Broadus Watson, für den Freuds Psychoanalyse nicht ausreichte. Mit Watson meinte Brecht, daß neues Verhalten nicht nur aus der Analyse der Vergangenheit entstünde, sondern auch praktisch eingeübt werden müsse. So hielte er die mit sich selbst unzufriedene Berlau an, mehr Geduld und Systematik beim Schreiben, beim Theaterspielen, bei all ihren Beschäftigungen aufzubringen. Daß seine Ratschläge Therapiecharakter hatten, zeigt sich besonders daran, daß es notwendig war, ihr gebetesmühlenartig einen regelmäßigen Tagesablauf nahezulegen, oft auch durch Briefe und Telephonanrufe. In Finnland stellte sich heraus, daß seine „Therapie“ nur wirkte, wenn er ihr nahe war. Borderliner können an die Zuneigung der Liebespartner nur glauben, wenn sie sich im selben Raum befinden. Sind sie aus dem Blickfeld, entstehen bohrende Zweifel. Daher wurde Ruth Berlau damit nicht damit fertig, daß er die Beziehungen zu Helene Weigel und Margarete Steffin nicht abbrach und nicht einmal abwertete. Das Exil und die materielle Abhängigkeit, in die sie dann auch geriet, verstärkten ihr Leiden. In einer Journalnotiz von 1942 befürchtete Brecht, durch ihr Verhalten die eigene Arbeitsfähigkeit einzubüßen. Außer Frage stand, sie zu verlassen. Aber er schlug nun oft einen autoritären Ton an. Der half aber bestenfalls kurzfristig. Borderline-Kranke sind auch in der tiefsten Depression hellsichtig. Berlau erfaßte genau die Schwierigkeiten, in die sie Brecht brachte. Sie war selbst sehr unglücklich darüber, daran nichts ändern zu können, obwohl sie es sich immer wieder vornahm.
Effektive Diagnosen und Therapien ihres Leidens gab es damals nicht. Ihr Aufenthalt in einer Nervenklinik 1946 in Amtyville bei New York war die Folge des Todes des gemeinsamen Kindes. Der Klinikaufenthalt traumatisierte sie so, daß ihr später auch unter vergleichsweise komfortablen Bedingungen und qualifiziertem medizinischem Beistand in der DDR nicht mehr zu helfen war. Sie entzog sich stets viel zu früh der Behandlung und lehnte auch die – aus dem Westen beschafften – fortgeschrittensten Medikamente ab. Noch heute bestehen Heilungschancen für Borderliner nur bei frühem Einsetzen der Einzeltherapie, auf die eine Gruppentherapie folgen sollte. Heute erkennt man auch Brechts Fehler deutlicher. Aber aus der Verantwortung hat er sich nicht gestohlen. Er zwang sich, seine Familie und später auch sein Theater, diese schwierige Person permanent zu akzeptieren. Entgegen von Gerüchten hat Helene Weigel gegenüber Ruth Berlau über weite Strecken und auch nach Brechts Tod Toleranz geübt und sie auch materiell unterstützt.
D. S.: Sie betonen die konstitutive Bedeutung der Kollektivität für „Brechts Arbeiten“ und sehen darin ein häufiges Paradigma moderner Literaturproduktion. Welchen Anteil hat Ruth Berlau?
Es entsprang Berlaus Konzentrationsschwäche, daß sie zeitlebens weder die Schriftform des Dänischen noch des Deutschen beherrschte, obwohl sie den tiefen Wunsch hatte zu schreiben. Bevor sie Brecht kennenlernte, hatte sie Zeitungsreportagen und einen Roman publiziert. Bei den Reportagen hatte der erotisch von ihr begeisterte namhafte Publizist Svend Borberg geholfen, bei dem Roman der dänische Dichter Otto Gelsted und ihr Freund Mogens Voltelen. Die beiden letzteren haben später auch an den Übersetzungen von Brecht-Stücken mitgearbeitet, von denen Ruth Berlau bisweilen behauptete, sie allein gemacht zu haben. Mit Brecht zusammen schrieb sie Novellen, in denen es darum ging, Lehren aus dem Schicksal der Schwester zu ziehen. Aber natürlich hat sie auch Anteil an Brechts Werken, der freilich nicht leicht zu umreißen ist. Es fehlten ihr Bildung und Konzentration, um ähnlich an Stücken mitzuarbeiten wie Steffin. Als Dialogpartner war sie Brecht beim Schreiben aber doch wichtig. Ich denke besonders an ´Der gute Mensch von Sezuan`, der durch die Radikalisierung im feministischen Sinne, die sie in die Diskussion brachte, sicher beeinflußt wurde. Interessant ist, daß parallel zu diesem Stück ein Hörspiel über Flauberts ´Madame Bovary` entstand, in der die Verwirklichung eines selbstbestimmten weiblichen Geschlechtslebens ähnlich gestellt ist. Natürlich waren auch Berlaus Inspirationen beim ´Kaukasischen Kreidekreis` von Bedeutung, der geschrieben wurde, als sie selbst schwanger war.
Während des Exils arbeitete Brecht morgens zunächst allein, dann einige Stunden mit Steffin. Den Abend verbrachte er mit seiner Familie. Nachmittags besuchte er Ruth Berlau. In diesen Stunden entwarf er mit ihr Pläne für Novellen, Hörspiele u.s.w., die sie selbst fertigstellen sollte. Teilweise diktierte er ihr auch Textteile in die Maschine, die sie gleich ins Dänische übersetzte oder deutsch eintippte. U. a. am Sprachwechsel auf solchen Blättern erkennt man, daß Brecht diktierte. In den USA entstanden in dialogischer Arbeitsweise eine Reihe von Filmszenarien. Berlaus Typoskripte sind größtenteils als Brecht-Diktate erkennbar, aber nicht als Brecht-Werke anerkannt. Als solche gelten nur Manuskripte, die von Brecht eigenhändig geschrieben oder getippt wurden. Dieser Fundus von meist fragmentarischen Novellen, Filmen und Hörspielen ist von großem Interesse, aber weitgehend unbekannt. Ich meine aber ziemlich genau zeigen zu können, daß Berlaus Anteil hier vor allem in der Situationskomik lag. Hätte sich Brecht bei den großen Axen mehr nach ihren etwas kitschigen Vorstellungen von Liebesgeschichten gerichtet, die denen von Hollywood viel näher standen als seine, hätte er die Filmentwürfe womöglich besser verkauft.
Zu beachten ist, daß sie in seine Arbeitskollektive nicht nur wegen ihrer Anregungen integriert war, sondern auch in der Hoffnung, dadurch ihr Leiden zu mildern. Sie wurde immer mehr zur Belastung, die aber akzeptiert wurde. Gemeinsames Schreiben läßt sich auch in der DDR belegen. Berlau ist als Mitarbeiterin an Die Tage der Commune und der Hofmeister-Bearbeitung genannt. Für das erste Stück sammelte sie Material, beim zweiten scheint sie engagiert mitdiskutiert zu haben, denn sie bezog die sexuelle Problematik des Stücks schließlich auf sich selbst, was zu einem Klinikaufenthalt führte. Es entstanden auch Texte über ihre Arbeitserfahrungen mit Inszenierungen nach Modellen des Berliner Ensembles an anderen Bühnen. Brecht las und korrigierte diese Notizen, aber auch ihre belletristischen Versuche. Es gibt Artikel Ruth Berlaus in DDR-Zeitungen, von denen anzunehmen ist, daß sie von Brecht oder vom ´Kollektiv des Berliner Ensembles´ in eine druckbare Form gebracht wurden. Ganz selbständige Arbeiten entstanden kaum. Sie scheiterte bei ihren zwanzigjährigen Versuchen, ein Buch über ihn zu schreiben. Es ist für Borderliner typisch, daß sie sich nicht für eine oder eine überschaubare Zahl von Perspektiven entscheiden können, sondern alles immer wieder neu beurteilen. Dadurch wird schwerlich etwas fertig. Natürlich ist die Frage interessant, weshalb sie auch nach Brechts Tod immer wieder Menschen fand, die ihr bei Artikeln halfen. Ich meine, daß es gerade dieser ständige Perspektivwechsel war, der sie im Gespräch äußerst anregend machte. Auch Brecht scheint genau das an Ruth Berlau angezogen zu haben. Schließlich ist die Fähigkeit zum Perspektivwechsel eine Voraussetzung der Dialektik.
D. S.: Kommen wir auf John Fuegi zurück. Obwohl die schlampige Recherche seines dickleibigen Buchs mittlerweile aufgedeckt wurde und der Verdacht naheliegt, dass es sich bei seiner These, Brecht habe die Frauen mit „sex for text“ bezahlt, nicht um einen Irrtum, sondern um eine böswillige Lüge handelt, sind seine Thesen nach wie vor populär. Oftmals tritt diese „Brechtkritik“ mit einem feministisch-emanzipatorischen Impetus auf. Wie antworten Sie darauf?
Es war kein gutes Zeugnis für das Niveau der Emanzipationskultur, wenn eine Borderlinerin zur Ikone werden konnte. Mir scheint aber, daß der Typ des Feminismus, der mehr auf symbiotische Beziehungen als auf die Autonomie der Personen setzt, allmählich überwunden wird. Angesichts dessen, daß eine lebenslange Liebessymbiose für die meisten Menschen unrealistisch ist, habe ich dieses Konstrukt immer für ein triviales Element der Massenkultur gehalten, das bei jungen Menschen falsche Erwartungen weckt. Glücklicherweise gibt es jetzt mehr Brecht-Forscherinnen, die die Frauen nicht von vorn herein als Opfer, sondern als eigenverantwortliche Individuen sehen. Auf dem kürzlich in Augsburg stattgefundenem Symposium ´Brecht und der Tod` haben Dorothee Ostmeier und Simran Karir den Sonettaustausch zwischen Margarete Steffin und Brecht aus dieser Sicht behandelt. Auch Anna Kuglis Buch über Brechts Frauengestalten in der Dramatik kommt zu völlig anderen Ergebnissen als frühere Behauptungen, Brechts Ideal sei zum einen die ´Hure` und zum anderen die ´Mutter` gewesen – die übrigens am vehementesten von Männern vertreten wurden.
Sabine Kebir: Mein Herz liegt neben der Schreibmaschine. Ruth Berlaus Leben vor, mit und nach Bertolt Brecht, Editions Lalla Moulati, Algier 2006, 216 Seiten, 25,00 Euro.
Saddek und Sabine Kebir über ihre Anverwandlung von Tausendundeine Nacht: Zwei Sultane
Peoples Globalization Edition, Amsterdam, Berlin, Algier, Shinsan 2002, 272 Seiten, 22 Euro
Bestellung: ISBN: 3-00-008856-3 oder www.Sabine-Kebir.de und www.Saddek-Kebir.de
Dagmar Galin: Sie haben eine überraschend unbotmäßige Neufassung der Tausendundeine Nacht produziert. Was waren Ihre Motive, sich auf so gefährliches Terrain zu begeben?
Saddek Kebir: Ich glaube nicht, daß unsere Version vom Wesen her unbotmäßiger ist, als die Urversion. Wir haben lediglich versucht, die verharmlosenden Aspekte, die früher die Übersetzungen und gekürzten, zensierten Versionen verbreiteten, zu überwinden. Wir wollten zum rebellischen Geist der Tausendundeine Nacht zurückfinden. Seit über zwanzig Jahren bin ich als Geschichtenerzähler tätig und schöpfe ganz besonders aus Tausendundeine Nacht. Ich habe damit in Algerien angefangen, weil ich Freude hatte an der Lebenskraft und Dynamik, die von diesen nie endenden Erzählungen ausgehen. Der ungebrochene Eros, der quer steht zur gesellschaftlichen Ordnung, war eine große Herausforderung für ein islamisches Land seit den siebziger und achtziger Jahren. Obwohl jeder weiß, daß Tausendundeine Nacht zu den Wurzeln unserer Zivilisation gehört, wurden die Bücher in manchen Ländern sogar öffentlich verbrannt, z. B. in Ägypten. In Algerien konnte man Ausgaben von Tausendundeine Nacht zwar in Buchhandlungen erwerben. Ich konnte damals eine erstaunlich vollständige ägyptische Ausgabe in arabisch kaufen, die in Ägypten selbst vielleicht auch verbrannt worden ist. Aber weder die Schule noch irgendeine Kulturinstitution wagte es damals in Algerien, dieses scheinbar anarchistische Gegeneinander von sexueller und sozialer Ordnung den Jugendlichen nahe zu bringen. Denn statt Auflösung der traditionellen Rangordnung, statt Entwicklung von Demokratie, statt fortschreitender Gleichberechtigung zwischen der Frauen, wollte der Islamismus praktisch wieder feudale Hierarchien und die Männerherrschaft restaurieren. Ein wichtiger Ausgangspunkt dafür war, daß die Frauen daran gehindert werden sollten, ihre Selbständigkeit zu entfalten. Man wollte sie zwingen, ihre Schönheit hinter dem Schleier zu verstecken.
Dagmar Galin: Aber auch in Tausendundeine Nacht kommen Schleier vor!
Saddek Kebir: Ja, als damals normales Kleidungsstück der Städterin. Dahinter aber verbirgt sich in den Geschichten aus Tausendundeine Nacht eine frei entscheidende Frau, eine Frau, die die etablierte Geschlechterordnung provoziert. Aber nicht nur das. Frauen aus Tausendundeine Nacht nehmen auch erotische Beziehungen zu Sklaven auf. Damit war das gesamte soziale System in Frage gestellt.
Dagmar Galin: Sollte nicht vielleicht – wie in vielen modernen islamischen Diskursen über die Frau - eher ihre Charakterschwäche bloßgestellt werden?
Saddek Kebir: Möglich, daß solche Wirkungen bei den Weiterentwicklungen der Erzählungen, die ja in Cafés, an Lagerfeuern, in Karawanserein stattfanden durchaus beabsichtigt waren. Daß sie schon ursprünglich beabsichtigt waren, glaube ich nicht. Denn die meisten dieser Damen haben auch im Verlaufe der vielen Erzählungen, Neuerzählungen und Wiedererzählen erstaunlich sympatische Züge behalten. Dies trifft auch für die meisten der schriftlich überlieferten Fassungen zu, wie z. B. die zwölfbändige Übersetzung von Enno Littmann , die ich viel benutze. Interessant ist, daß auch die weniger vollständigen europäischen Ausgaben für Kinder und Jugendliche die Geschichten der selbstständigen Frauen oft an den entscheidenden Stellen zensiert oder auch ganz weggelassen haben.
Dagmar Galin: Sie haben in Ihrem Buch, das sich ja eigentlich die Rahmengeschichte von Tausendundeine Nacht – wie Schahrased den frauenverschlingenden Tyrannen Schariar bändigt - ausführlich anverwandelt, eine neue Rahmengeschichte geschaffen: ein Erzählercafé in einem heutigen islamischen Land. Eine sehr moderne Bürgergesellschaft unternimmt es hier, zusammen mit dem Erzähler Assam, den angeblich aufklärererischen, ja sogar demokratischen Kern von Tausendundeine Nacht zu rekonstruieren. Ist das nicht ein unwahrscheinliches, gewagt utopisches Projekt?
Saddek Kebir: Nein, diese modernen Bürger gibt es in der islamischen Welt wirklich überall und die von uns im Erzählcafé angesiedelten Diskussionen – einschließlich derer der Feministinnen – finden heute ständig statt. Leider werden sie in Europa nicht gebührend wahrgenommen. Im Bösen – aber leider auch im Guten – wird dem Islam immer ein altertümlicher, undemokratischer Aspekt zugeschrieben, manchmal auch wohlwollend paternalistisch zugestanden. Es wäre besser, wenn der Westen mit den wirklich existierenden demokratischen Kräften in unseren Gesellschaften zusammenarbeiten würde.
Sabine Kebir: Wir haben bei unseren Reisen solche Kräfte sogar auf der arabischen Halbinsel wahrgenommen. Im Gegensatz zu anderen islamischen Ländern sind die Bürger dort bereits alle gut gebildet und ausgebildet. Sie lechzen nach Demokratisierung. Um einer solchen keinen kulturellen Vorschub zu geben, wird ja Tausendundeine Nacht auch immer wieder auf den Index gesetzt, bzw. öffentlich verbrannt, verboten.
Dagmar Galin: Und worin besteht nun der aufklärerische Kern von Tausendundeine Nacht, den Sie beide mit Ihrem Buch wiederbeleben wollen?
Sabine Kebir: ‚Tausendundeine Nacht ist tatsächlich der populäre Ausdruck der Epoche der islamischen Zivilisation, als sie noch universelle Ansprüche vertrat. Ihre Expansion war ja auch nur gelungen, weil sie den Menschen Fortschritt brachte und in der religiösen Botschaft zunächst auch ein Gleichheitsversprechen lag, z.- B. das der Abschaffung der Sklaverei. Es wurde nur ansatzweise und auch nur in der ersten Zeit in die Praxis umgesetzt. Aber als universelles Versprechen ist diese Botschaft eine Weile kraftvoll erhalten geblieben. Wir kennen Ähnliches aus dem Christentum, das ursprünglich seine Kraft ebenfalls weniger aus Institutionen, sondern aus dem Gleichheitsversprechen schon auf Erden geschöpft hat. Dieses Gleichheitsversprechen hat sich sowohl im Christentum als auch im Islam durch die
Ketzerbewegungen auch immer wieder mal erneuert, die nicht selten mit sexueller Entfesselung einhergingen. In Tausendundeine Nacht sind insofern ketzerische Einflüsse festzustellen, als dort eine egalitäre Naturrechtsvorstellung agiert, die ganz bewußt gegen die soziale Ordnung gesetzt ist. Keines der beiden Systeme siegt in diesen Erzählungen, womit sie trotz aller phantastischer Vorgänge der Realität folgen. Es wird also suggeriert, daß beide Prinzipien existent und offenbar für den Spannungszustand der Welt verantwortlich sind. Ein Beispiel: Der Kalif Haroun Al Rachid inspiziert nächtens seine Hauptstadt und richtet diejenigen, die sich nicht seinen Gesetzen entsprechend verhalten. Ich erinnere mich, daß mir als Halbwüchsige die Geschichte von der Frau und dem Bären sehr mißfallen hat. Ich konnte einfach nicht begreifen, warum eine Frau, wenn sie es denn unbedingt wollte, nicht mit einem Bären zusammenleben durfte. Der Bär ist sicher nicht nur Symbol für die verbotene sodomistische Beziehung, sondern für eine Beziehung mit einem anderen, einem Fremden, die der Muslima ebenfalls nicht erlaubt ist. Als der Kalif davon erfährt, versucht er zunächst, der Frau einen Ehemann vorzuschlagen. Da sie auf dem Bären beharrt, bringt er sie mit einem Schwert um. Obschon ich die sexuellen Aspekte der Geschichte nicht voll ermessen konnte, war ich für das Recht der Frau, mit dem Bären zu leben. Immerhin kannte ich Frauen, die mit Hunden oder Katzen lebten. Die Strafe des Kalifen stellte für mich sogar einen Grund dar, die Lektüre von Tausendundeine Nacht zu unterbrechen und die islamische Zivilisation rätselhaft unsympatisch zu finden. Ich habe mich eigentlich erst wieder für Tausendundeine Nacht interessiert, als mein Mann damit zu arbeiten begann, Ende der siebziger Jahre. Da erst begriff ich, daß das Wesentliche an Tausendundeine Nacht gerade nicht darin besteht, daß der Kalif seine Gesetze durchsetzt, sondern daß danach sofort wieder diese Triebkraft, diese Naturkraft zum Zuge kommt und erneut versucht, die Gesetze zu umgehen oder auch direkt zu brechen. Unsere Faszination für diese Geschichten – die natürlich auch deshalb so groß war, weil die islamische Welt in Gefahr geraten war, von Intoleranz und Obskurantismus beherrscht zu werden – beruhte darauf, daß in Tausendundeine Nacht hier jedem Wesen, egal ob Frau, Sklave, Sultan Tier oder Geist, der gleiche Glücksanspruch zugestanden wird. Und dieser Glücksanspruch wird als die Triebkraft des Lebens selbst gezeigt, er ist auch die Triebkraft der Erzählung, die aus diesem Grunde kein wirkliches Ende finden kann.
Saddek Kebir: Deshalb gibt es auch in Tausendundeine Nacht kein dem europäischen Märchen oder einem Hollywood-Film vergleichbares Happy End. Einen Zustand, in dem wirklich alle gleich zufrieden sind, gibt es nicht. Irgendwer kommt immer zu kurz oder meint, zu kurz zu kommen. Deshalb kann der Faden der Erzählung immer wieder aufgenommen werden.
Dagmar Galin: Dann wäre Tausendundeine Nacht eine Vorform der Fortsetzungsgeschichte, der Fernsehserie?
Sabine Kebir: Sicher. Uns kommt es aber darauf an, gerade auch den Unterschied zum europäischen Märchen und seiner modernsten Form, dem Hollywood-Film, herauszustellen. Das quasi obligatorische Happy End suggeriert hier einen Zustand der friedlichen Auflösung aller Konflikte, der in der Wirklichkeit nie vorkommen kann. Interessant ist daran nicht die offenkundige Banalität dieser Feststellung. Interessant ist, mit welcher Hartnäckigkeit sich gerade die Märchenstruktur mit Happy End in der bürgerlichen Welt gehalten hat und weiter hält. Für mich ist sie mit dem Mythos der totalen Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit der Welt verbunden, wenn diese hier auch nicht durch ungeheure technologischer Mittel, sondern ungeheure Mobilisierung guter Gefühle zustande kommen soll. Sowohl das eine als auch das andere ist ja ebenso illusionär wie die Vorstellung, daß der Kalif ein für alle Mal Ordnung schaffen könnte. Daß die wirkliche Welt auch heute voller Risiken steckt – und zwar sowohl für den einzelnen als auch für die Gesellschaften – wird von der Happy-End-Struktur völlig geleugnet. Im Gegenteil, je chaotischer die Lebensbedingungen der Menschen werden, um so kitschiger werden die Märchen. Ich kenne Adaptionen von Aschenbrödel und Dornröschen, in denen sogar die böse Fee nicht mehr wirklich böse ist. Der ganze Konflikt beruht nur noch auf Mißverständnissen, etwa wie im sozialistischen Realismus. Das Problem aber ist, daß das Selbstvertrauen der Zuhörer, bzw. Zuschauer dadurch nicht gestärkt, sondern geschwächt wird, gerade, wenn es sich um junge Leute handelt. Viele glauben deshalb wirklich an das Wunder der Liebe zum Beispiel. Der ganze Partnerschaftskitsch der heutigen Gebrauchskunst des Westens erzeugt Traumtänzer und Traumtänzerinnen, die immer unfähiger werden zu echter Partnerschaft.
Dagmar Galin: Es scheint mir offenkundig, daß die heutige Märchen-Mode im Westen, wie auch Hollywood – kompensatorische Funktionen hat. Sie soll in eine Traumwelt führen, in der sich die Menschen vor dem Streß, vor der Häßlichkeit ihres Alltagslebens eine Zeit lang flüchten können. Manche denken, daß es ein regelrechtes Recht auf diese Form von Kompensation gibt.
Saddek Kebir: Das muß die europäische Zivilisation letztlich selbst entscheiden, ob sie insbesondere für Kinder und Jugendlichen diese Form von kulturellem Selbstbetrug beibehalten will. Wichtig ist zu sehen, daß europäische Märchen, Sagen, Fabeln und Geschichten nicht immer diese Happy-End-Form besaßen.
Sabine Kebir: Denken wir an Till Eulenspiegel oder auch an das Schildbürgerbuch.
Saddek Kebir: Bei La Fontaine enden die Fabeln des öfteren schlecht. Damals sollten die Zuhörer auf drastische Weise über die Gefährlichkeit der Welt informiert werden. Nicht erst die Psychoanalytiker, sondern schon La Fontaine hatte darauf hingewiesen, daß der Wolf, bevor er die Großmutter verspeist, zunächst schon einmal der Vergewaltiger des Rotkäppchens ist. Diesen häßlichen Aspekt hat das spätere bürgerliche Märchen verkleistert.
Sabine Kebir: Es gibt viele Hinweise darauf, daß Rotkäppchen früher nicht gut endete. Noch heute gibt es im Maghreb, aber auch z. B. in Bulgarien Varianten, wo daß wilde Tier das Mädchen und die Großmutter frißt und damit endet alles. In dieser Form will das Märchen sagen: Paßt auf, es gibt im Leben gefährliche Wölfe. Eine Version, die einen Jäger einführt, der den Wolf tötet und Rotkäppchen und Großmutter lebendig aus seinem Bauch herausoperiert, suggeriert, daß von irgendwoher draußen eine allmächtige Lebensrettung kommt. Der reiche Prinz, der am Ende die arme Bauerntochter heiratet, ist im Grunde nichts anderes. Ich sehe hier eine fatale Illusion des westlichen Denkens mythisch widergespiegelt. Da ist nichts von Selbstermächtigung, nichts von Emanzipation zu spüren.
Saddek Kebir: Eine Zwischenform stellt Der Vielfraß und die fünf Zicklein im Maghreb dar. Hier ist es nicht der Jäger, sondern die Mutter, die den Vielfraß tötet und ihre Kinder aus seinem Bauch herausholt. Aber wir haben auch noch die Variante, daß das Kind, das dem Großvater Essen bringt, Blut unter der Tür seiner Hütte hervorquellen sieht. Es schließt richtig, daß der Großvater von einem wilden Tier getötet wurde und kehrt, ohne das Essen abzuliefern, schnell nach Hause zurück. Kinder, die dieses Märchen hören, sollen lernen, sich nicht unbedingt auf die Feuerwehr zu verlassen, sondern auf ihre eigene Wahrnehmung und auf ihre eigene Kraft.
Dagmar Galin: Was Sie da sagen steht in Gegensatz dazu, daß die meisten Menschen glauben, daß Märchen und Mythen ewigkeitsfest sind, unwandelbar...
Saddek Kebir: Also die Motive der Märchen sind oft uralt, zum Teil Erbgut der gesamten Menschheit. Aber die Vorstellung, daß sie ewig unwandelbar sind, führt z. B. die Europäische Märchenvereinigung dazu, Wettbewerbe auszuschreiben, bei denen die Teilnehmer die von den Gebrüdern Grimm hergestellte Textfassung vortragen müssen. Da kommt es nur auf den Unterschied der Darbietung an. Meiner Auffassung nach widerspricht das der Natur des Märchens, das immer wieder neu erzählt wird und sich dabei dem Zeitenwandel anpaßt. Das kann auch zu radikalen Änderungen, bis hin zur Umkehrung mancher Wertungen führen. Einen Kanonisierung von schriftlichen Fassungen ist absurd.
Sabine Kebir: Sie ist absurd, insbesondere, was die Gebrüder Grimm angeht. Bei allen Verdiensten der Aufzeichnungen der Märchen – sie standen ja in Gefahr, ganz verloren zu gehen – stellen diese Texte deutlich ein Dokument der deutschen Romantik dar, aus denen früher vielleicht vorhandene aufklärerische Aspekte verschwunden waren. Die Märchen in der Grimmschen Fassung kennen keine Dissonanz zwischen Naturrecht und sozialer Ordnung. Letztere präsentiert sich als perfekte Hierarchie in der von Thomas von Aquino erdachten mittelalterlichen Pyramide. Hier stellte das Göttliche die Spitze dar, dann folgten Papst und weltliche Herrschaft, schließlich kamen auch Bürger und Bauern. Unter den Menschen standen die Tiere, unter denen die Pflanzen, unter denen dann die tote Natur. In dieser pyramidalen Ordnung darf es nicht vorkommen, daß sich eine Prinzessin mit einem Diener einläßt. Das braucht sie auch nicht, weil in ihr angeblich keine Naturkräfte walten und sie ja bereits an der Spitze der Pyramide steht. Die von den Grimms hinterlassenen Märchen folgen auf ihre Weise dem christlichen Prinzip der möglichen Erlösung durch Jesus. Wenn die Bauerntochter hübsch und fromm ist, kann sie in der Pyramide aufsteigen, d.h. vom Prinzen geheiratet werden. Ihr mögliches Glück kommt durch ein bestimmtes Wohlverhalten, kaum durch echte Eigeninitiative zustande. In diesen Märchen gibt es so gut wie keine Kritik der Herrschaft. Der Prinz tritt nicht als Herrscher, sondern als Erlöser auf. Mir sind die Märchenfassungen von Hans Christian Andersen, die zum Teil Kunstmärchen sind, zum Teil aber doch auch auf Volksmärchen zurückgehen immer lieber gewesen. Hier spielt, soweit ich sehe, doch ein gewisser Einfluß der Aufklärung hinein, der in Dänemark wesentlich nachhaltiger als in Deutschland war. Das ist zum Beispiel an Die Prinzessin und der Schweinehirt zu sehen. Dieses Märchen will sagen, daß ein Kuß zwischen verschiedenen sozialen Schichten zwar besonders süß ist, aber zugleich, daß die sozialen Identitäten keine natürlichen, sondern historische Konstruktionen sind und damit austauschbar. Es gibt bei Andersen auch eine sehr moderne Vorstellung von Fatalität, die eben dazu führt, daß ein Märchen auch mal die Gefährlichkeit der Welt und die Instabilität der menschlichen Beziehungen zeigt. Ich denke an Die kleine Seejungfrau.
Saddek Kebir: Sie können sich nicht vorstellen, was ich manchmal – wenn auch selten - für Schwierigkeiten beim Erzählen vor einem europäischen Publikum bekomme, wenn ich das Ende offen lasse. In Österreich spielte eine Lehrerin einmal völlig verrückt, weil ich die Kinder, denen ich ein algerisches Volksmärchen erzählte, aufforderte, sich das Ende auszudenken. Obwohl die Kinder das lustig fanden, fand die Lehrerin, daß das Prinzip des Märchenerzählens selbst durchbrochen sei. Es muß ein Ende haben. Und zwar ein Ende, das mit den gerade herrschenden Vorstellungen übereinstimmt.
Dagmar Galin: Mit Ihrem Buch ‚Zwei Sultane‘ sprechen sie Erwachsene an. Sie haben sich ein Motiv aus Tausendundeine Nacht anverwandelt, in dem ja tatsächlich eine wesentliche Frage der Herrschaft, der Tyrannei angeschnitten ist. In den beiden Brüdern scheinen sich zwei unterschiedliche Modelle von schlechter und von guter Herrschaft gegenüberzustehen.
Saddek Kebir: Das Interessante ist, daß sogar in der als besonders vollständig geltenden Littmannschen Fassung der Geschichte von Schahriar, Schahsamèn und Schahrased, die nur 8 Seiten beträgt, eigenartige Lücken festzustellen sind. Ich habe mich natürlich gefragt, wieso vor allem die Geschichte Schahriars, des schrecklichen Bruders, so ausführlich dargestellt wird. Schahsamèn, dem dasselbe wie seinem Bruder widerfahren ist – seine Harenmsfrauen hatten ihn mit Sklaven betrogen – verfällt nicht in Tyrannei. Aber das Merkwürdige ist, daß wir gar nicht erfahren, was aus ihm wird. Die Erzählung beschäftigt sich ab einem bestimmten Punkt gar nicht mehr mit ihm. Nach dem unfreiwilligen Abenteuer der beiden Brüder mit einer sexuell herausfordernden Frau, ist von ihm einfach nicht mehr die Rede. Hat die Frau ihn verschluckt? Näher liegt, daß seine Geschichte zensiert worden ist. Bruno Bettelheim meint, daß dieser Strang der Geschichte vielleicht auch deshalb weggelassen wurde, weil die Brüder in Wirklichkeit als Einheit zu betrachten sind, als die zwei Möglichkeiten von Gut und Böse, die in uns allen stecken.
Sabine Kebir: Dieser Deutung ist zuzustimmen und zugleich zu betonen, daß sich hier wohl auch der hochkulturelle Aspekt von Tausendundeine Nacht zeigt. Gut und Böse wird hier nicht wie im Volksmärchen manichäisch gegenübergestellt, sondern als Ambivalenz aller Wesen gezeigt. Auf der erzählerischen Ebene kann indes Schahsamèns Verschwinden nur frustrieren. Also war es für uns reizvoll, zu erkunden, warum was zensiert worden ist. Aus meiner Sicht konnte der Grund der Zensur des Gegenspielers zu Schahriar nur darin liegen, daß er den Erzählern von irgendwann als absurd, unehrenhaft erschien, ein Schwächling, der, weil er keine Gewalt mehr ausüben wollte, seine Macht verlor. Ein solcher Herrscher – und auch das Nachdenken über ihn – war in der in Dekadenz verfallenden islamischen Zivlisation nicht mehr statthaft, der Tyrann dagegen wohl. Die Geschichte, die wir für Schahsamèn erfunden haben, hat natürlich viel mit heutigen Vorstellungen zu tun, warum und wie Macht abgegeben, wie Macht aufgelöst werden müßte.
Dagmar Galin: Aber falls Sie den Feministinnen im islamischen Raum nicht in den Rücken, wenn Schahsamèn sich am Ende immerhin noch zwei Haremsdamen leistet anstatt einer – wie es der Kampf um die Abschaffung der Polygamie erfordern würde?
Saddek Kebir: Über die Polygamie streiten sich die Bürger und Bürgerinnen in unserem Erzählcafé, in der Rahmenhandlung, die wir erfunden haben.
Sabine Kebir: In der eigentlichen Erzählung wollten wir alles vermeiden, was uns dem Hollywood-Kitsch angenähert hätte, wonach unser Schahsamèn dann eine ideale Frau hätte finden müssen. Das wäre auch historisch völlig falsch gewesen. Das Wichtigste ist doch, daß er am Ende seines Lebens nicht mehr in sozial erzwungenen menschlichen Beziehungen lebt, sondern mit den beiden Frauen, die ihn tatsächlich lieben. Es sind seine Jugendgespielinnen, die offenbar auch untereinander Freundinnen sind. Frauenfreundschaften im Harem, ja Bündnisse der Frauen gegen den Mann – sind übrigens nicht so selten gewesen.
Dagmar Galin: Die Gestalt der Schahrased, die sonst immer im Mittelpunkt steht, haben Sie aber ein wenig beiseite gerückt, jedenfalls über lange Strecken der Erzählung.
Sabine Kebir: Saddek hat sich tatsächlich – das hing sicher mit der Lage in der islamischen Welt zusammen – in seinen Erzählungen zunächst mehr für die Machtfrage interessiert, die in den sich gegenläufig entwickelnden Gestalten der beiden Sultansbrüder zum Ausdruck kam. Schahriar ähnelt einem der in der islamischen Welt noch immer vorhandenen Potentaten, während der Typus Schahsamèn eher selten ist. Schahrased erweckte auch deshalb nicht sofort unser Interesse, weil diese Gestalt in der allgemeinen Vorstellung Schahriar mit Sex, Erotik und irgendwelchen Märchen bezwungen hat. Das kam uns zunächst etwas billig vor. Durch ein eigentlich soziologisches Werk von Fatima Mernissi Scharased ist keine Marokkanerin wurden wir aber darauf gestoßen, daß Schahrased, bevor sie die Frau des Tyrannen wurde, sämtliche Bücher ihrer Zeit gelesen hatte. Das hat sich Fatima Mernissi nicht ausgedacht, das steht tatsächlich im Text, es wird nur meistens überlesen. Hier offenbart sich ebenfalls ein ausgesprochen aufklärerischer Geist von Tausendundeine Nacht: der Tyrann wird nicht mit Liebeskünsten, sondern mit Wissen besiegt. Es gelingt Schahrased, ihm die Welt zu erzählen, damit fesselt sie ihn. Daß sie auch eine sexuell erfahrene Frau gewesen sein muß, versteht sich. Neu von uns eingeführt, beziehungsweise wiedereingeführt wurde der Gedanke, daß sie auch eine Märtyrerin war. Einer typologischen Forschung habe ich entnommen, daß ihre Gestalt im nahöstlichen Mythentiegel letztlich mit der biblischen Esther in Verbindung zu bringen ist. Auch Esther rettete ihr Volk vor einem Tyrannen, indem sie ihn verführte und heiratete.
Dagmar Galin: Aber Schahrased tötet ihn nicht, zeugt sogar Kinder mit ihm.
Sabine Kebir: Das stellt ein ausgesprochenes politikwissenschaftliches Raffinement in Tausendundeine Nacht dar. Offenbar erkennt Scharased, daß das Problem der Tyrannei nicht mit einem Attentat zu lösen ist. Daß Schahriar ihr jede Nacht gebannt zuhört, weist darauf hin, daß sie ihn mit ihren Geschichten fesselt, in gewisser Weise infantilisiert und plant, über ihre eigenen Söhne selbst Herrschaft auszuüben. Letzteres steht nicht bei Littmann. Aber aus der merkwürdigen Konstellation, daß sie Kinder zeugt, liegt eine solche Schlußfolgerung eigentlich auf der Hand. Wenn man sich diese Situation praktisch vorstellt, hat sie damit ein lebenslanges Martyrium bewußt auf sich genommen.
Saddek Kebir: Die Märtyrerin ist allerdings nicht das, was wir an ihr am interessantesten fanden. Mit ihrer Intelligenz, ihrer Bildung, ihrem erotischen Selbstbewußtsein, aber auch mit ihrem Engagement für ihre Gesellschaft ist sie doch vor allem ein Symbol gerade der Verantwortlichkeiten, die Frauen in der islamischen Welt heute wahrnehmen wollen.
Dagmar Galin: Mich hat auch verwundert, daß Ihr Buch so ausführliche Phasen der religiösen Verzückung enthält, seitenlange Gebete der beiden Brüder. Auch gibt es eine Ebene des religiösen Dialogs mit Christentum und Judentum. Warum muten Sie Ihren Lesern so etwas zu?
Saddek Kebir: Diese Passagen sind mir mit am wichtigsten am ganzen Text. Ich habe mich gar nicht bewußt entschieden, sie zu schreiben. Ich mußte sie schreiben. Obwohl ich selbst nicht religiös bin, hat doch im vergangenen Jahrzehnt nicht nur einen dramatische religiöse Selbstverständigung aller Muslime stattgefunden, sondern auch ein dramatischer religiöser Streit zwischen unseren Religionen. Wenn man in Religionen auch Kulturen sieht, versteht man, warum ich das schreiben mußte. Schahriar und Schahsamèn führen auch zwei sehr verschiedene Formen ihrer Religion, ihres Islam vor. Mit Schahsamèns Gebeten wollte ich zeigen, daß es auch eine friedliche, den Weg zu Gott behutsam erkundende Art des Betens gibt. Und natürlich wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, ausführlich darzulegen, daß ich Juden und Christen als unsere Cousins empfinde, einen Status, den wir viel öfter hervorheben müßten.
Dagmar Galin: Darf man fragen, wer von Ihnen was geschrieben hat?
Sabine Kebir. Sie dürfen. Aber beantworten können wir das nicht. Allerdings haben wir die verschiedenen Stadien der Ausarbeitung – die erste war ganz von Saddek – aufbewahrt, da können sich einmal Philogen dran setzen. Der Ausgangspunkt waren Saddeks seit zwanzig Jahren sich entwickelnden Erzählungen von Schahriar und Schahsamèn sowie einige ebenfalls von ihm selbst weiter entwickelten Einzelmärchen, die auch hier eingeflochten wurden. Beim Über- und Ausarbeiten seiner ersten Version stellte ich fest, daß er sich für meinen Geschmack zu wenig für Schahrased interessiert hatte und das Verschwinden Schahsamèns mit dem Argument von Bettelheim einfach als gegeben akzeptierte. Diese beiden Stränge stammen dann also eher von mir. Auch stellte das Erzählcafé, in das in der Nacht der Offenbarung die Figuren aus Tausendundeine Nacht auf fliegenden Teppichen gelangen, zunächst nur den Anfang dar. Ich fand es reizvoll, immer wieder ins Café zurückzukehren, d.h. heutige Muslime und Musliminnen über die Erzählungen Assams diskutieren zu lassen. Aber wir haben alles immer vorher abgesprochen, eine ungefähre Entwicklungslinie zusammen festgelegt. Auch hat Saddek dann wieder meine Gesamtfassungen überarbeitet, ehe ich wieder darüber ging. Das hat eine ganze Weile gedauert. Widersprüche mußten wir bis in die Druckfassung hinein eliminieren. Ein paar unlogische Stellen blieben bewußt erhalten, weil sie uns eben gefielen – siehe die Pfauenhenne, die sich herrlich aufplustert. Herrlich aufplustert sich aber nur der männliche Pfau. Ich fand es aber eine köstliche Idee, daß die Frau Harun al Rachids als Pfauenhenne auftritt und daß sie sich natürlich auch aufplustert. Solche Ungereimtheiten gehören zu den harmlosen Phantasierechten des Märchens. Ähnlich chaotisch geht es bei uns mit der Geographie zu. Da schaut es aber in Tausendundeine Nacht selbst nicht besser aus. Schahriar beherrscht da wirklich irgendwelche Teile von China und Indien, während Schasamèn der Herrscher von Samarkand zu sein scheint. Bei uns liegt sein Reich eher auf der arabischen Halbinsel. Ich wollte unbedingt eine Begegnung mit einer Königin aus dem Jemen herstellen, einer Nachfolgerin der Königin von Saaba. Historisch ist das alles undenkbar, denn das sabäische Königreich existierte zur Zeit, in Tausendundeine Nacht spielen, gar nicht mehr. Der Staudamm, der den berühmten Garten ermöglicht hatte, war bereits zerstört. Die Szene mit dem Koch der Königin - wie übrigens alle Abschnitte über das Essen – ist wieder von Saddek.
Dagmar Galin: Waren Sie auch manchmal uneins, wie es weitergehen sollte?
Sabine Kebir: Eigentlich kaum. Ich habe aber zum Beispiel um Auswechselung der Geschichte gebeten, mit der Schahrased ihren furchtbaren Märtyrerinnendienst an Schahriar beginnt. Die ursprüngliche Geschichte war dazu wenig geeignet wie übrigens auch die, mit der sie in den echten Tausendundeine Nacht beginnt. Auch war ich am Anfang von Saddeks Idee der beiden Masseusen Schahriars nicht so begeistert. Aber als ich sie dann nach seinen Vorstellungen niederzuschreiben begann, gefiel sie mir immer besser und ich hatte dann auch eigene Einfälle dazu. Umgekehrt hat auch Saddek fast alle meine Vorschläge und Ideen akzeptiert.
Saddek Kebir: Wir haben eine lange gemeinsame Erfahrung hinter uns, sowohl in der wirklichen islamischen Welt als auch in deren Phantasiewelt. Daran liegt es wahrscheinlich, daß wir oft dieselben Sachen interessant oder komisch finden.
Die kulturellen Beziehungen des Westens zur arabischen Welt
Sonderbeilage zur Frankfurter Buchmesse 2004
In: Freitag no 42 v. 8. 10. 2004
Daß die Frankfurter Buchmesse 2004 als Schwerpunkt die arabische Literatur gewählt hat, gibt Anlaß zu einer Bilanz der vielfältigen Beziehungen zwischen dem Westen, insbesondere Deutschlands, und der arabischen Welt. Die besten Vertreter der Aufklärung – darunter Goethe – hielten die islamische Kultur für nicht weniger groß als die unsere. Auch die sich entwickelnde Orientalistik sprach ihr zumindest ein Potential der Gleichberechtigung zu. Es kam sogar ein schwärmerischer Zug in die deutsch-arabischen Beziehungen, dessen populärer Ausdruck schon im 19. Jahrhundert von Wilhelm Hauffs Kunstmärchen bis zu Karl Mays Büchern über Kara Ben Nemsi reichte. Orientalistische Wissenschaft und Archäologie wurden auch staatlicherseits gepflegt, weil man an der Kolonisierung der arabischen Welt teilnehmen wollte. Der deutsche Kaiser prüfte, ob er Theodor Herzls Bemühungen unterstützen sollte, um über die in Palästina anzusiedelnden deutschen Juden einen Brückenkopf in den Orient zu gewinnen. Hitler verfolgte dieselben Ziele, für die er allerdings an die antienglischen Gefühle der Araber appellierte. Während Rommels Kolonne in Nordafrika stand, behandelte Hitler den im Berliner Asyl weilenden Großmufti von Jerusalem Al Husseini – übrigens ein Verwandter Arafats – wie eine Exilregierung. Auch aus der damals unter französischer Hoheit stehenden Kabylei sind mir einige Volkslieder bekannt, die ebenfalls von Hitlers tapferer Truppe die Befreiung erhofften. Freilich ahnten weder die Urheber solcher Dichtungen noch Al Husseini, daß den Berbern und Arabern im Imperium des Dritten Reichs keine rassische Bevorzugung - etwa gegenüber den Juden - zugedacht war. Unbekannt war ihnen das Schicksal mehrerer hundert unehelicher Kinder, die nordafrikanische Angehörige der französischen Armee mit deutschen Frauen während der Besetzung des Rheinlands nach dem 1. Weltkrieg gezeugt hatten. Die `Rheinlandbastarde` wurden von der Presse der Weimarer Republik zum ständigen Ärgernis stilisiert. Die Nazis nahmen sie den Müttern amtlicherseits weg, steckten sie zunächst in Waisenhäuser, um sie nach und nach auf diskrete Weise, zumeist durch Euthanasie, zum Verschwinden zu bringen. Schon 1938 lebte keines dieser Kinder mehr.
Die vergessenen Schicksale der „Rheinlandbastarde“ einerseits und Hitlers Buhlen um Al Husseini andererseits ist charakteristisch für eine fortdauernde Tradition autoritär-tückischen Umgangs des Westens mit den Arabern. Zwar sind die kolonialen Abenteuer nicht nur Deutschlands, sondern auch Englands und Frankreichs beendet und doch wird die arabische Welt auch heute noch für unreif, ja infantil gehalten. Angeblich kann sie selbstständig nicht modern und demokratisch werden. Wenn die deutsche Regierung an den Kampfhandlungen im Irak zwar selbst nicht teilnimmt, der Invasionsmacht aber bei der Ausbildung einer einheimischen Ordnungstruppe helfen will, steht nicht nur der Gedanke dahinter, die USA bei ihrem großen Demokratisierungswerk zu unterstützen. Wie schon das Kaiserreich will man auch heute der Region „beim Aufbau“ helfen, obwohl bekannt ist, daß der Irak über ein großes eigenes Heer von Technikern verfügt.
Auch mit der staatlich geförderten und keineswegs selbstlosen Erforschung der arabischen Kultur ist es keineswegs vorbei. Nicht nur der zum Kampf der Kulturen aufrufende Samuel Huntington, sondern auch hochgebildete Kulturhistoriker wie Bernard Lewis gehörten zu den geschätzten Beratern des Pentagon. Die heutige Landschaft der wissenschaftlichen Arabistik wird allerdings nicht mehr nur von Westlern geprägt, sondern auch von Professoren, deren Authentizität dadurch gesichert scheint, daß sie aus dem Orient stammen. Eher eine Ausnahme ist ein an der Columbia-University lehrender Edward Said, der 1993 mit seinem großen Buch „Kultur und Imperialismus“ Lenins Imperialismustheorie eine aktuelle kulturkritische Perspektive gab. Oft treten diese Professoren – wie Bassam Tibi in Deutschland - als die vehementesten Verfechter der Verwestlichung auf, selbst, wenn kriegerische Mittel dazu gebraucht werden. Neben der Finanzierung von Zeitschriften betreibt der Westen – allen voran die USA – die Errichtung privater Institute oder gar Universitäten wie z. B. einer amerikanischen Universität in Kairo. Hier wird westliches Denken schon direkt vor Ort eingeübt. Das einzige Gegengewicht zum Amerikanismus stellt die freilich ebenfalls postkolonial geprägte Kulturförderung dar, die Frankreich in seinen ehemaligen Kolonien über die Institutionen der Francophonie betreibt.
Noch immer weist die arabische Welt die für kolonisierte Gesellschaften typische Zweiteilung auf. In einigen Bereichen scheint sie hochmodern, hochgebildet und hochzivilisiert. In anderen, sich schroff absetzenden, herrscht tiefstes Elend, Obskurantismus und Brutalität. Eine Zone modernen Mittelstands blieb zu klein, ist von Rückbildung oder gar Verschwinden bedroht. Die Faszination, die die arabische Kultur trotz allem auf jenen Teil des westlichen Publikums hat, das partnerschaftliche Beziehungen zu ihr unterhalten will, beruht auf dem hohen Grad unverwechselbarer Identität, die sie in allen ihren sozialen Erscheinungsformen besitzt. Auch das ist ein Hinweis auf ihren kolonialen Status, gegen den sie sich u.a. durch hartnäckige Aufrechterhaltung vieler Riten und Gebräuche zu wehren sucht. So taucht die traditionelle Form der Gebetsecke, die man in allen Moscheen findet, als grandioses Element der Außenarchitektur an einigen Kanten der herrlichen Wolkenkratzer von Abu Dhabi wieder auf. Eine große Ausstrahlungskraft auf westliches Publikum hat jedoch auch die arabische Literatur. In keiner anderen Gegenwartsliteratur ringen Individuen beiderlei Geschlechts heroischer um ihre autonome Entwicklung. Das Interesse z. B. an Büchern über die Auflehnung arabischer Frauen gegen patriarchale Herrschaft ist auch deshalb groß, weil die westliche Leserschaft diesen Kampf ebenfalls nicht als endgültig gewonnen empfindet.
Erleichtert wird diese Anteilnahme, weil sich die arabische Literatur im 20. Jahrhundert auch unter dem Einfluß der emanzipatorischen Literatur des Westens befand und moderne Genres wie den Roman und eine sich modernisierende Sprache entwickelte. Großmeister Nagib Machfus vereinigt die Qualitäten vieler westlicher Autoren von Dickens über Tolstoi bis zur flotten Schreibe Norman Mailers. Wenn es in der Endphase des alten Kolonialismus so aussah, als würde wenigstens in einigen arabischen Ländern Nationalliteraturen nach klassischem Vorbild entstehen, so wurden diese Anfänge durch die politische Entwicklung und die kulturelle Globalisierung wieder erstickt. Es ist nicht nur die Zensur im engeren Sinne, die die Arbeit arabischer Autoren behindert. Mit wenigen Ausnahmen – darunter Ägypten und der Libanon – fehlen ausreichende Verlagslandschaften, Bibliotheken und selbst Buchhandlungen. Die Abwesenheit dieser Infrastruktur wird von den Autoren nicht zu Unrecht ebenfalls als Zensur empfunden. Wer trotzdem schreibt, muß noch einen anderen Beruf ausüben. Die einzige Hoffnung auf Professionalisierung liegt darin, im Westen übersetzt und verlegt zu werden. Dort besteht jedoch die Konkurrenz der bereits im Westen lebenden arabischen Kollegen, die sich mit Chancen und Zwängen des Literaturmarkts auf die eine oder andere Art bereits familiarisiert haben. Es ist kein Zufall, daß im Westen verlegte Literatur arabischer Autoren heute oft auch schon in den Sprachen des Westens und im Westen selbst geschrieben wird. Manchmal spielen auch solche Autoren – nicht immer berechtigt - die von der osteuropäischen Literatur abgeschaute Rolle des ewigen Dissidenten. Die Literatur der zweiten oder dritten Generation handelt mehr von den Problemen des Lebens im Einwanderungs- als im Ursprungsland. Und immer öfter wird dieses nur noch aus der Perspektive eines kurzen Besuchs beschrieben, d.h. mit halb verwestlichen Augen. Die eigentlichen Entwicklungen und Differenzierungen, die in der arabischen Welt stattfinden, kommen so nicht mehr in den Blick.
Zu beobachten ist auch, daß großartige arabische Literatur heute zwar den westlichen Leser erreichen, daß sie aber selten den Weg zurück in die Ursprungsregion finden. Auch das liegt nicht nur an der „Zensur“. Assia Djebar, Yasmina Khadra, Habib Tengour sind in ihrer Heimat Algerien weder verboten noch verfolgt. Nur finden sich keine Verleger, die meinen, daran verdienen zu können. Und im Ausland gedruckte Bücher sind für die arabische Leserschaft unerschwinglich teuer, werden auch deshalb kaum importiert. In Algerien, wo es keine Zensur für Druckerzeugnisse mehr gibt, wirkt einfach der hohe Buchpreis als „Zensur“. Hinzu kommt die Konkurrenz der „moderneren“ Medien. Junge Mädchen, die noch vor 20 Jahren fieberhaft darum kämpften, sich mit einem Buch in eine stille Ecke zurückziehen zu können, sehen heute mittels Satellitenschüssel lieber Fernsehbilder aus Welten, von denen sie nur träumen können. Deshalb ist die Aussage problematisch, die Fatima Mernissi kürzlich auf einer Lesereise in Deutschland machte: das Satellitenfernsehen habe die Diktaturen in den arabischen Ländern bereits unterhöhlt und werde sie bald hinwegfegen. Beim kulturellen Selektionsmechanismus der Globalisierung fallen ebenfalls viele Themen und Schreibweisen unter den Tisch. Die globale Marktdiktatur trifft freilich nicht nur die arabische, sondern alle nichthegemonialen Kulturen.
So unaufhaltsam der Einfluß des Westens auf vielen, vor allem seichten Ebenen der arabischen Kultur ist, er wird konkurriert durch den Islamismus. Immer wieder wird im Westen vergessen, daß sich die Einschüchterung durch den islamistischen Terror schon in den achtziger, verstärkt dann in den neunziger Jahren vor allem gegen die liberalen und gebildeten Mittelschichten in den islamischen Ländern selbst richtete, um Laisierung und Demokratisierung zu bremsen. Das ging hauptsächlich aus von Saudi Arabien aus. In seiner radikalsten Form vertritt der saudische Wahabismus die Auffassung, daß der Mensch kein weiteres Buch als den Koran benötigt. Und doch gibt es in diesem Land eine sich vorsichtig vorantastende Literatur im modernen Sinne, auch eine Frauenliteratur. Neben Ägypten – noch immer der bedeutendste Kulturproduzent der arabischen Welt - wird Saudi Arabien der größte Aussteller auf der Buchmesse sein. Wir dürfen gespannt sein, was es außer dem Koran und religiöser Auslegungsliteratur vorführen wird.
So sieht sich die Kultur der arabischen Länder heute eingezwängt zwischen kulturfeindlichem Islamismus und dem vom Westen dominierten globalen Kulturmarkt. Eine selbstzentrierte Kulturentwicklung ist außerordentlich erschwert.