Die kulturellen Beziehungen des Westens zur arabischen Welt
Sonderbeilage zur Frankfurter Buchmesse 2004
In: Freitag no 42 v. 8. 10. 2004
Daß die Frankfurter Buchmesse 2004 als Schwerpunkt die arabische Literatur gewählt hat, gibt Anlaß zu einer Bilanz der vielfältigen Beziehungen zwischen dem Westen, insbesondere Deutschlands, und der arabischen Welt. Die besten Vertreter der Aufklärung – darunter Goethe – hielten die islamische Kultur für nicht weniger groß als die unsere. Auch die sich entwickelnde Orientalistik sprach ihr zumindest ein Potential der Gleichberechtigung zu. Es kam sogar ein schwärmerischer Zug in die deutsch-arabischen Beziehungen, dessen populärer Ausdruck schon im 19. Jahrhundert von Wilhelm Hauffs Kunstmärchen bis zu Karl Mays Büchern über Kara Ben Nemsi reichte. Orientalistische Wissenschaft und Archäologie wurden auch staatlicherseits gepflegt, weil man an der Kolonisierung der arabischen Welt teilnehmen wollte. Der deutsche Kaiser prüfte, ob er Theodor Herzls Bemühungen unterstützen sollte, um über die in Palästina anzusiedelnden deutschen Juden einen Brückenkopf in den Orient zu gewinnen. Hitler verfolgte dieselben Ziele, für die er allerdings an die antienglischen Gefühle der Araber appellierte. Während Rommels Kolonne in Nordafrika stand, behandelte Hitler den im Berliner Asyl weilenden Großmufti von Jerusalem Al Husseini – übrigens ein Verwandter Arafats – wie eine Exilregierung. Auch aus der damals unter französischer Hoheit stehenden Kabylei sind mir einige Volkslieder bekannt, die ebenfalls von Hitlers tapferer Truppe die Befreiung erhofften. Freilich ahnten weder die Urheber solcher Dichtungen noch Al Husseini, daß den Berbern und Arabern im Imperium des Dritten Reichs keine rassische Bevorzugung - etwa gegenüber den Juden - zugedacht war. Unbekannt war ihnen das Schicksal mehrerer hundert unehelicher Kinder, die nordafrikanische Angehörige der französischen Armee mit deutschen Frauen während der Besetzung des Rheinlands nach dem 1. Weltkrieg gezeugt hatten. Die `Rheinlandbastarde` wurden von der Presse der Weimarer Republik zum ständigen Ärgernis stilisiert. Die Nazis nahmen sie den Müttern amtlicherseits weg, steckten sie zunächst in Waisenhäuser, um sie nach und nach auf diskrete Weise, zumeist durch Euthanasie, zum Verschwinden zu bringen. Schon 1938 lebte keines dieser Kinder mehr.
Die vergessenen Schicksale der „Rheinlandbastarde“ einerseits und Hitlers Buhlen um Al Husseini andererseits ist charakteristisch für eine fortdauernde Tradition autoritär-tückischen Umgangs des Westens mit den Arabern. Zwar sind die kolonialen Abenteuer nicht nur Deutschlands, sondern auch Englands und Frankreichs beendet und doch wird die arabische Welt auch heute noch für unreif, ja infantil gehalten. Angeblich kann sie selbstständig nicht modern und demokratisch werden. Wenn die deutsche Regierung an den Kampfhandlungen im Irak zwar selbst nicht teilnimmt, der Invasionsmacht aber bei der Ausbildung einer einheimischen Ordnungstruppe helfen will, steht nicht nur der Gedanke dahinter, die USA bei ihrem großen Demokratisierungswerk zu unterstützen. Wie schon das Kaiserreich will man auch heute der Region „beim Aufbau“ helfen, obwohl bekannt ist, daß der Irak über ein großes eigenes Heer von Technikern verfügt.
Auch mit der staatlich geförderten und keineswegs selbstlosen Erforschung der arabischen Kultur ist es keineswegs vorbei. Nicht nur der zum Kampf der Kulturen aufrufende Samuel Huntington, sondern auch hochgebildete Kulturhistoriker wie Bernard Lewis gehörten zu den geschätzten Beratern des Pentagon. Die heutige Landschaft der wissenschaftlichen Arabistik wird allerdings nicht mehr nur von Westlern geprägt, sondern auch von Professoren, deren Authentizität dadurch gesichert scheint, daß sie aus dem Orient stammen. Eher eine Ausnahme ist ein an der Columbia-University lehrender Edward Said, der 1993 mit seinem großen Buch „Kultur und Imperialismus“ Lenins Imperialismustheorie eine aktuelle kulturkritische Perspektive gab. Oft treten diese Professoren – wie Bassam Tibi in Deutschland - als die vehementesten Verfechter der Verwestlichung auf, selbst, wenn kriegerische Mittel dazu gebraucht werden. Neben der Finanzierung von Zeitschriften betreibt der Westen – allen voran die USA – die Errichtung privater Institute oder gar Universitäten wie z. B. einer amerikanischen Universität in Kairo. Hier wird westliches Denken schon direkt vor Ort eingeübt. Das einzige Gegengewicht zum Amerikanismus stellt die freilich ebenfalls postkolonial geprägte Kulturförderung dar, die Frankreich in seinen ehemaligen Kolonien über die Institutionen der Francophonie betreibt.
Noch immer weist die arabische Welt die für kolonisierte Gesellschaften typische Zweiteilung auf. In einigen Bereichen scheint sie hochmodern, hochgebildet und hochzivilisiert. In anderen, sich schroff absetzenden, herrscht tiefstes Elend, Obskurantismus und Brutalität. Eine Zone modernen Mittelstands blieb zu klein, ist von Rückbildung oder gar Verschwinden bedroht. Die Faszination, die die arabische Kultur trotz allem auf jenen Teil des westlichen Publikums hat, das partnerschaftliche Beziehungen zu ihr unterhalten will, beruht auf dem hohen Grad unverwechselbarer Identität, die sie in allen ihren sozialen Erscheinungsformen besitzt. Auch das ist ein Hinweis auf ihren kolonialen Status, gegen den sie sich u.a. durch hartnäckige Aufrechterhaltung vieler Riten und Gebräuche zu wehren sucht. So taucht die traditionelle Form der Gebetsecke, die man in allen Moscheen findet, als grandioses Element der Außenarchitektur an einigen Kanten der herrlichen Wolkenkratzer von Abu Dhabi wieder auf. Eine große Ausstrahlungskraft auf westliches Publikum hat jedoch auch die arabische Literatur. In keiner anderen Gegenwartsliteratur ringen Individuen beiderlei Geschlechts heroischer um ihre autonome Entwicklung. Das Interesse z. B. an Büchern über die Auflehnung arabischer Frauen gegen patriarchale Herrschaft ist auch deshalb groß, weil die westliche Leserschaft diesen Kampf ebenfalls nicht als endgültig gewonnen empfindet.
Erleichtert wird diese Anteilnahme, weil sich die arabische Literatur im 20. Jahrhundert auch unter dem Einfluß der emanzipatorischen Literatur des Westens befand und moderne Genres wie den Roman und eine sich modernisierende Sprache entwickelte. Großmeister Nagib Machfus vereinigt die Qualitäten vieler westlicher Autoren von Dickens über Tolstoi bis zur flotten Schreibe Norman Mailers. Wenn es in der Endphase des alten Kolonialismus so aussah, als würde wenigstens in einigen arabischen Ländern Nationalliteraturen nach klassischem Vorbild entstehen, so wurden diese Anfänge durch die politische Entwicklung und die kulturelle Globalisierung wieder erstickt. Es ist nicht nur die Zensur im engeren Sinne, die die Arbeit arabischer Autoren behindert. Mit wenigen Ausnahmen – darunter Ägypten und der Libanon – fehlen ausreichende Verlagslandschaften, Bibliotheken und selbst Buchhandlungen. Die Abwesenheit dieser Infrastruktur wird von den Autoren nicht zu Unrecht ebenfalls als Zensur empfunden. Wer trotzdem schreibt, muß noch einen anderen Beruf ausüben. Die einzige Hoffnung auf Professionalisierung liegt darin, im Westen übersetzt und verlegt zu werden. Dort besteht jedoch die Konkurrenz der bereits im Westen lebenden arabischen Kollegen, die sich mit Chancen und Zwängen des Literaturmarkts auf die eine oder andere Art bereits familiarisiert haben. Es ist kein Zufall, daß im Westen verlegte Literatur arabischer Autoren heute oft auch schon in den Sprachen des Westens und im Westen selbst geschrieben wird. Manchmal spielen auch solche Autoren – nicht immer berechtigt - die von der osteuropäischen Literatur abgeschaute Rolle des ewigen Dissidenten. Die Literatur der zweiten oder dritten Generation handelt mehr von den Problemen des Lebens im Einwanderungs- als im Ursprungsland. Und immer öfter wird dieses nur noch aus der Perspektive eines kurzen Besuchs beschrieben, d.h. mit halb verwestlichen Augen. Die eigentlichen Entwicklungen und Differenzierungen, die in der arabischen Welt stattfinden, kommen so nicht mehr in den Blick.
Zu beobachten ist auch, daß großartige arabische Literatur heute zwar den westlichen Leser erreichen, daß sie aber selten den Weg zurück in die Ursprungsregion finden. Auch das liegt nicht nur an der „Zensur“. Assia Djebar, Yasmina Khadra, Habib Tengour sind in ihrer Heimat Algerien weder verboten noch verfolgt. Nur finden sich keine Verleger, die meinen, daran verdienen zu können. Und im Ausland gedruckte Bücher sind für die arabische Leserschaft unerschwinglich teuer, werden auch deshalb kaum importiert. In Algerien, wo es keine Zensur für Druckerzeugnisse mehr gibt, wirkt einfach der hohe Buchpreis als „Zensur“. Hinzu kommt die Konkurrenz der „moderneren“ Medien. Junge Mädchen, die noch vor 20 Jahren fieberhaft darum kämpften, sich mit einem Buch in eine stille Ecke zurückziehen zu können, sehen heute mittels Satellitenschüssel lieber Fernsehbilder aus Welten, von denen sie nur träumen können. Deshalb ist die Aussage problematisch, die Fatima Mernissi kürzlich auf einer Lesereise in Deutschland machte: das Satellitenfernsehen habe die Diktaturen in den arabischen Ländern bereits unterhöhlt und werde sie bald hinwegfegen. Beim kulturellen Selektionsmechanismus der Globalisierung fallen ebenfalls viele Themen und Schreibweisen unter den Tisch. Die globale Marktdiktatur trifft freilich nicht nur die arabische, sondern alle nichthegemonialen Kulturen.
So unaufhaltsam der Einfluß des Westens auf vielen, vor allem seichten Ebenen der arabischen Kultur ist, er wird konkurriert durch den Islamismus. Immer wieder wird im Westen vergessen, daß sich die Einschüchterung durch den islamistischen Terror schon in den achtziger, verstärkt dann in den neunziger Jahren vor allem gegen die liberalen und gebildeten Mittelschichten in den islamischen Ländern selbst richtete, um Laisierung und Demokratisierung zu bremsen. Das ging hauptsächlich aus von Saudi Arabien aus. In seiner radikalsten Form vertritt der saudische Wahabismus die Auffassung, daß der Mensch kein weiteres Buch als den Koran benötigt. Und doch gibt es in diesem Land eine sich vorsichtig vorantastende Literatur im modernen Sinne, auch eine Frauenliteratur. Neben Ägypten – noch immer der bedeutendste Kulturproduzent der arabischen Welt - wird Saudi Arabien der größte Aussteller auf der Buchmesse sein. Wir dürfen gespannt sein, was es außer dem Koran und religiöser Auslegungsliteratur vorführen wird.
So sieht sich die Kultur der arabischen Länder heute eingezwängt zwischen kulturfeindlichem Islamismus und dem vom Westen dominierten globalen Kulturmarkt. Eine selbstzentrierte Kulturentwicklung ist außerordentlich erschwert.