Saddek und Sabine Kebir über ihre Anverwandlung von Tausendundeine Nacht: Zwei Sultane
Peoples Globalization Edition, Amsterdam, Berlin, Algier, Shinsan 2002, 272 Seiten, 22 Euro
Bestellung: ISBN: 3-00-008856-3 oder www.Sabine-Kebir.de und www.Saddek-Kebir.de
Dagmar Galin: Sie haben eine überraschend unbotmäßige Neufassung der Tausendundeine Nacht produziert. Was waren Ihre Motive, sich auf so gefährliches Terrain zu begeben?
Saddek Kebir: Ich glaube nicht, daß unsere Version vom Wesen her unbotmäßiger ist, als die Urversion. Wir haben lediglich versucht, die verharmlosenden Aspekte, die früher die Übersetzungen und gekürzten, zensierten Versionen verbreiteten, zu überwinden. Wir wollten zum rebellischen Geist der Tausendundeine Nacht zurückfinden. Seit über zwanzig Jahren bin ich als Geschichtenerzähler tätig und schöpfe ganz besonders aus Tausendundeine Nacht. Ich habe damit in Algerien angefangen, weil ich Freude hatte an der Lebenskraft und Dynamik, die von diesen nie endenden Erzählungen ausgehen. Der ungebrochene Eros, der quer steht zur gesellschaftlichen Ordnung, war eine große Herausforderung für ein islamisches Land seit den siebziger und achtziger Jahren. Obwohl jeder weiß, daß Tausendundeine Nacht zu den Wurzeln unserer Zivilisation gehört, wurden die Bücher in manchen Ländern sogar öffentlich verbrannt, z. B. in Ägypten. In Algerien konnte man Ausgaben von Tausendundeine Nacht zwar in Buchhandlungen erwerben. Ich konnte damals eine erstaunlich vollständige ägyptische Ausgabe in arabisch kaufen, die in Ägypten selbst vielleicht auch verbrannt worden ist. Aber weder die Schule noch irgendeine Kulturinstitution wagte es damals in Algerien, dieses scheinbar anarchistische Gegeneinander von sexueller und sozialer Ordnung den Jugendlichen nahe zu bringen. Denn statt Auflösung der traditionellen Rangordnung, statt Entwicklung von Demokratie, statt fortschreitender Gleichberechtigung zwischen der Frauen, wollte der Islamismus praktisch wieder feudale Hierarchien und die Männerherrschaft restaurieren. Ein wichtiger Ausgangspunkt dafür war, daß die Frauen daran gehindert werden sollten, ihre Selbständigkeit zu entfalten. Man wollte sie zwingen, ihre Schönheit hinter dem Schleier zu verstecken.
Dagmar Galin: Aber auch in Tausendundeine Nacht kommen Schleier vor!
Saddek Kebir: Ja, als damals normales Kleidungsstück der Städterin. Dahinter aber verbirgt sich in den Geschichten aus Tausendundeine Nacht eine frei entscheidende Frau, eine Frau, die die etablierte Geschlechterordnung provoziert. Aber nicht nur das. Frauen aus Tausendundeine Nacht nehmen auch erotische Beziehungen zu Sklaven auf. Damit war das gesamte soziale System in Frage gestellt.
Dagmar Galin: Sollte nicht vielleicht – wie in vielen modernen islamischen Diskursen über die Frau - eher ihre Charakterschwäche bloßgestellt werden?
Saddek Kebir: Möglich, daß solche Wirkungen bei den Weiterentwicklungen der Erzählungen, die ja in Cafés, an Lagerfeuern, in Karawanserein stattfanden durchaus beabsichtigt waren. Daß sie schon ursprünglich beabsichtigt waren, glaube ich nicht. Denn die meisten dieser Damen haben auch im Verlaufe der vielen Erzählungen, Neuerzählungen und Wiedererzählen erstaunlich sympatische Züge behalten. Dies trifft auch für die meisten der schriftlich überlieferten Fassungen zu, wie z. B. die zwölfbändige Übersetzung von Enno Littmann , die ich viel benutze. Interessant ist, daß auch die weniger vollständigen europäischen Ausgaben für Kinder und Jugendliche die Geschichten der selbstständigen Frauen oft an den entscheidenden Stellen zensiert oder auch ganz weggelassen haben.
Dagmar Galin: Sie haben in Ihrem Buch, das sich ja eigentlich die Rahmengeschichte von Tausendundeine Nacht – wie Schahrased den frauenverschlingenden Tyrannen Schariar bändigt - ausführlich anverwandelt, eine neue Rahmengeschichte geschaffen: ein Erzählercafé in einem heutigen islamischen Land. Eine sehr moderne Bürgergesellschaft unternimmt es hier, zusammen mit dem Erzähler Assam, den angeblich aufklärererischen, ja sogar demokratischen Kern von Tausendundeine Nacht zu rekonstruieren. Ist das nicht ein unwahrscheinliches, gewagt utopisches Projekt?
Saddek Kebir: Nein, diese modernen Bürger gibt es in der islamischen Welt wirklich überall und die von uns im Erzählcafé angesiedelten Diskussionen – einschließlich derer der Feministinnen – finden heute ständig statt. Leider werden sie in Europa nicht gebührend wahrgenommen. Im Bösen – aber leider auch im Guten – wird dem Islam immer ein altertümlicher, undemokratischer Aspekt zugeschrieben, manchmal auch wohlwollend paternalistisch zugestanden. Es wäre besser, wenn der Westen mit den wirklich existierenden demokratischen Kräften in unseren Gesellschaften zusammenarbeiten würde.
Sabine Kebir: Wir haben bei unseren Reisen solche Kräfte sogar auf der arabischen Halbinsel wahrgenommen. Im Gegensatz zu anderen islamischen Ländern sind die Bürger dort bereits alle gut gebildet und ausgebildet. Sie lechzen nach Demokratisierung. Um einer solchen keinen kulturellen Vorschub zu geben, wird ja Tausendundeine Nacht auch immer wieder auf den Index gesetzt, bzw. öffentlich verbrannt, verboten.
Dagmar Galin: Und worin besteht nun der aufklärerische Kern von Tausendundeine Nacht, den Sie beide mit Ihrem Buch wiederbeleben wollen?
Sabine Kebir: ‚Tausendundeine Nacht ist tatsächlich der populäre Ausdruck der Epoche der islamischen Zivilisation, als sie noch universelle Ansprüche vertrat. Ihre Expansion war ja auch nur gelungen, weil sie den Menschen Fortschritt brachte und in der religiösen Botschaft zunächst auch ein Gleichheitsversprechen lag, z.- B. das der Abschaffung der Sklaverei. Es wurde nur ansatzweise und auch nur in der ersten Zeit in die Praxis umgesetzt. Aber als universelles Versprechen ist diese Botschaft eine Weile kraftvoll erhalten geblieben. Wir kennen Ähnliches aus dem Christentum, das ursprünglich seine Kraft ebenfalls weniger aus Institutionen, sondern aus dem Gleichheitsversprechen schon auf Erden geschöpft hat. Dieses Gleichheitsversprechen hat sich sowohl im Christentum als auch im Islam durch die
Ketzerbewegungen auch immer wieder mal erneuert, die nicht selten mit sexueller Entfesselung einhergingen. In Tausendundeine Nacht sind insofern ketzerische Einflüsse festzustellen, als dort eine egalitäre Naturrechtsvorstellung agiert, die ganz bewußt gegen die soziale Ordnung gesetzt ist. Keines der beiden Systeme siegt in diesen Erzählungen, womit sie trotz aller phantastischer Vorgänge der Realität folgen. Es wird also suggeriert, daß beide Prinzipien existent und offenbar für den Spannungszustand der Welt verantwortlich sind. Ein Beispiel: Der Kalif Haroun Al Rachid inspiziert nächtens seine Hauptstadt und richtet diejenigen, die sich nicht seinen Gesetzen entsprechend verhalten. Ich erinnere mich, daß mir als Halbwüchsige die Geschichte von der Frau und dem Bären sehr mißfallen hat. Ich konnte einfach nicht begreifen, warum eine Frau, wenn sie es denn unbedingt wollte, nicht mit einem Bären zusammenleben durfte. Der Bär ist sicher nicht nur Symbol für die verbotene sodomistische Beziehung, sondern für eine Beziehung mit einem anderen, einem Fremden, die der Muslima ebenfalls nicht erlaubt ist. Als der Kalif davon erfährt, versucht er zunächst, der Frau einen Ehemann vorzuschlagen. Da sie auf dem Bären beharrt, bringt er sie mit einem Schwert um. Obschon ich die sexuellen Aspekte der Geschichte nicht voll ermessen konnte, war ich für das Recht der Frau, mit dem Bären zu leben. Immerhin kannte ich Frauen, die mit Hunden oder Katzen lebten. Die Strafe des Kalifen stellte für mich sogar einen Grund dar, die Lektüre von Tausendundeine Nacht zu unterbrechen und die islamische Zivilisation rätselhaft unsympatisch zu finden. Ich habe mich eigentlich erst wieder für Tausendundeine Nacht interessiert, als mein Mann damit zu arbeiten begann, Ende der siebziger Jahre. Da erst begriff ich, daß das Wesentliche an Tausendundeine Nacht gerade nicht darin besteht, daß der Kalif seine Gesetze durchsetzt, sondern daß danach sofort wieder diese Triebkraft, diese Naturkraft zum Zuge kommt und erneut versucht, die Gesetze zu umgehen oder auch direkt zu brechen. Unsere Faszination für diese Geschichten – die natürlich auch deshalb so groß war, weil die islamische Welt in Gefahr geraten war, von Intoleranz und Obskurantismus beherrscht zu werden – beruhte darauf, daß in Tausendundeine Nacht hier jedem Wesen, egal ob Frau, Sklave, Sultan Tier oder Geist, der gleiche Glücksanspruch zugestanden wird. Und dieser Glücksanspruch wird als die Triebkraft des Lebens selbst gezeigt, er ist auch die Triebkraft der Erzählung, die aus diesem Grunde kein wirkliches Ende finden kann.
Saddek Kebir: Deshalb gibt es auch in Tausendundeine Nacht kein dem europäischen Märchen oder einem Hollywood-Film vergleichbares Happy End. Einen Zustand, in dem wirklich alle gleich zufrieden sind, gibt es nicht. Irgendwer kommt immer zu kurz oder meint, zu kurz zu kommen. Deshalb kann der Faden der Erzählung immer wieder aufgenommen werden.
Dagmar Galin: Dann wäre Tausendundeine Nacht eine Vorform der Fortsetzungsgeschichte, der Fernsehserie?
Sabine Kebir: Sicher. Uns kommt es aber darauf an, gerade auch den Unterschied zum europäischen Märchen und seiner modernsten Form, dem Hollywood-Film, herauszustellen. Das quasi obligatorische Happy End suggeriert hier einen Zustand der friedlichen Auflösung aller Konflikte, der in der Wirklichkeit nie vorkommen kann. Interessant ist daran nicht die offenkundige Banalität dieser Feststellung. Interessant ist, mit welcher Hartnäckigkeit sich gerade die Märchenstruktur mit Happy End in der bürgerlichen Welt gehalten hat und weiter hält. Für mich ist sie mit dem Mythos der totalen Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit der Welt verbunden, wenn diese hier auch nicht durch ungeheure technologischer Mittel, sondern ungeheure Mobilisierung guter Gefühle zustande kommen soll. Sowohl das eine als auch das andere ist ja ebenso illusionär wie die Vorstellung, daß der Kalif ein für alle Mal Ordnung schaffen könnte. Daß die wirkliche Welt auch heute voller Risiken steckt – und zwar sowohl für den einzelnen als auch für die Gesellschaften – wird von der Happy-End-Struktur völlig geleugnet. Im Gegenteil, je chaotischer die Lebensbedingungen der Menschen werden, um so kitschiger werden die Märchen. Ich kenne Adaptionen von Aschenbrödel und Dornröschen, in denen sogar die böse Fee nicht mehr wirklich böse ist. Der ganze Konflikt beruht nur noch auf Mißverständnissen, etwa wie im sozialistischen Realismus. Das Problem aber ist, daß das Selbstvertrauen der Zuhörer, bzw. Zuschauer dadurch nicht gestärkt, sondern geschwächt wird, gerade, wenn es sich um junge Leute handelt. Viele glauben deshalb wirklich an das Wunder der Liebe zum Beispiel. Der ganze Partnerschaftskitsch der heutigen Gebrauchskunst des Westens erzeugt Traumtänzer und Traumtänzerinnen, die immer unfähiger werden zu echter Partnerschaft.
Dagmar Galin: Es scheint mir offenkundig, daß die heutige Märchen-Mode im Westen, wie auch Hollywood – kompensatorische Funktionen hat. Sie soll in eine Traumwelt führen, in der sich die Menschen vor dem Streß, vor der Häßlichkeit ihres Alltagslebens eine Zeit lang flüchten können. Manche denken, daß es ein regelrechtes Recht auf diese Form von Kompensation gibt.
Saddek Kebir: Das muß die europäische Zivilisation letztlich selbst entscheiden, ob sie insbesondere für Kinder und Jugendlichen diese Form von kulturellem Selbstbetrug beibehalten will. Wichtig ist zu sehen, daß europäische Märchen, Sagen, Fabeln und Geschichten nicht immer diese Happy-End-Form besaßen.
Sabine Kebir: Denken wir an Till Eulenspiegel oder auch an das Schildbürgerbuch.
Saddek Kebir: Bei La Fontaine enden die Fabeln des öfteren schlecht. Damals sollten die Zuhörer auf drastische Weise über die Gefährlichkeit der Welt informiert werden. Nicht erst die Psychoanalytiker, sondern schon La Fontaine hatte darauf hingewiesen, daß der Wolf, bevor er die Großmutter verspeist, zunächst schon einmal der Vergewaltiger des Rotkäppchens ist. Diesen häßlichen Aspekt hat das spätere bürgerliche Märchen verkleistert.
Sabine Kebir: Es gibt viele Hinweise darauf, daß Rotkäppchen früher nicht gut endete. Noch heute gibt es im Maghreb, aber auch z. B. in Bulgarien Varianten, wo daß wilde Tier das Mädchen und die Großmutter frißt und damit endet alles. In dieser Form will das Märchen sagen: Paßt auf, es gibt im Leben gefährliche Wölfe. Eine Version, die einen Jäger einführt, der den Wolf tötet und Rotkäppchen und Großmutter lebendig aus seinem Bauch herausoperiert, suggeriert, daß von irgendwoher draußen eine allmächtige Lebensrettung kommt. Der reiche Prinz, der am Ende die arme Bauerntochter heiratet, ist im Grunde nichts anderes. Ich sehe hier eine fatale Illusion des westlichen Denkens mythisch widergespiegelt. Da ist nichts von Selbstermächtigung, nichts von Emanzipation zu spüren.
Saddek Kebir: Eine Zwischenform stellt Der Vielfraß und die fünf Zicklein im Maghreb dar. Hier ist es nicht der Jäger, sondern die Mutter, die den Vielfraß tötet und ihre Kinder aus seinem Bauch herausholt. Aber wir haben auch noch die Variante, daß das Kind, das dem Großvater Essen bringt, Blut unter der Tür seiner Hütte hervorquellen sieht. Es schließt richtig, daß der Großvater von einem wilden Tier getötet wurde und kehrt, ohne das Essen abzuliefern, schnell nach Hause zurück. Kinder, die dieses Märchen hören, sollen lernen, sich nicht unbedingt auf die Feuerwehr zu verlassen, sondern auf ihre eigene Wahrnehmung und auf ihre eigene Kraft.
Dagmar Galin: Was Sie da sagen steht in Gegensatz dazu, daß die meisten Menschen glauben, daß Märchen und Mythen ewigkeitsfest sind, unwandelbar...
Saddek Kebir: Also die Motive der Märchen sind oft uralt, zum Teil Erbgut der gesamten Menschheit. Aber die Vorstellung, daß sie ewig unwandelbar sind, führt z. B. die Europäische Märchenvereinigung dazu, Wettbewerbe auszuschreiben, bei denen die Teilnehmer die von den Gebrüdern Grimm hergestellte Textfassung vortragen müssen. Da kommt es nur auf den Unterschied der Darbietung an. Meiner Auffassung nach widerspricht das der Natur des Märchens, das immer wieder neu erzählt wird und sich dabei dem Zeitenwandel anpaßt. Das kann auch zu radikalen Änderungen, bis hin zur Umkehrung mancher Wertungen führen. Einen Kanonisierung von schriftlichen Fassungen ist absurd.
Sabine Kebir: Sie ist absurd, insbesondere, was die Gebrüder Grimm angeht. Bei allen Verdiensten der Aufzeichnungen der Märchen – sie standen ja in Gefahr, ganz verloren zu gehen – stellen diese Texte deutlich ein Dokument der deutschen Romantik dar, aus denen früher vielleicht vorhandene aufklärerische Aspekte verschwunden waren. Die Märchen in der Grimmschen Fassung kennen keine Dissonanz zwischen Naturrecht und sozialer Ordnung. Letztere präsentiert sich als perfekte Hierarchie in der von Thomas von Aquino erdachten mittelalterlichen Pyramide. Hier stellte das Göttliche die Spitze dar, dann folgten Papst und weltliche Herrschaft, schließlich kamen auch Bürger und Bauern. Unter den Menschen standen die Tiere, unter denen die Pflanzen, unter denen dann die tote Natur. In dieser pyramidalen Ordnung darf es nicht vorkommen, daß sich eine Prinzessin mit einem Diener einläßt. Das braucht sie auch nicht, weil in ihr angeblich keine Naturkräfte walten und sie ja bereits an der Spitze der Pyramide steht. Die von den Grimms hinterlassenen Märchen folgen auf ihre Weise dem christlichen Prinzip der möglichen Erlösung durch Jesus. Wenn die Bauerntochter hübsch und fromm ist, kann sie in der Pyramide aufsteigen, d.h. vom Prinzen geheiratet werden. Ihr mögliches Glück kommt durch ein bestimmtes Wohlverhalten, kaum durch echte Eigeninitiative zustande. In diesen Märchen gibt es so gut wie keine Kritik der Herrschaft. Der Prinz tritt nicht als Herrscher, sondern als Erlöser auf. Mir sind die Märchenfassungen von Hans Christian Andersen, die zum Teil Kunstmärchen sind, zum Teil aber doch auch auf Volksmärchen zurückgehen immer lieber gewesen. Hier spielt, soweit ich sehe, doch ein gewisser Einfluß der Aufklärung hinein, der in Dänemark wesentlich nachhaltiger als in Deutschland war. Das ist zum Beispiel an Die Prinzessin und der Schweinehirt zu sehen. Dieses Märchen will sagen, daß ein Kuß zwischen verschiedenen sozialen Schichten zwar besonders süß ist, aber zugleich, daß die sozialen Identitäten keine natürlichen, sondern historische Konstruktionen sind und damit austauschbar. Es gibt bei Andersen auch eine sehr moderne Vorstellung von Fatalität, die eben dazu führt, daß ein Märchen auch mal die Gefährlichkeit der Welt und die Instabilität der menschlichen Beziehungen zeigt. Ich denke an Die kleine Seejungfrau.
Saddek Kebir: Sie können sich nicht vorstellen, was ich manchmal – wenn auch selten - für Schwierigkeiten beim Erzählen vor einem europäischen Publikum bekomme, wenn ich das Ende offen lasse. In Österreich spielte eine Lehrerin einmal völlig verrückt, weil ich die Kinder, denen ich ein algerisches Volksmärchen erzählte, aufforderte, sich das Ende auszudenken. Obwohl die Kinder das lustig fanden, fand die Lehrerin, daß das Prinzip des Märchenerzählens selbst durchbrochen sei. Es muß ein Ende haben. Und zwar ein Ende, das mit den gerade herrschenden Vorstellungen übereinstimmt.
Dagmar Galin: Mit Ihrem Buch ‚Zwei Sultane‘ sprechen sie Erwachsene an. Sie haben sich ein Motiv aus Tausendundeine Nacht anverwandelt, in dem ja tatsächlich eine wesentliche Frage der Herrschaft, der Tyrannei angeschnitten ist. In den beiden Brüdern scheinen sich zwei unterschiedliche Modelle von schlechter und von guter Herrschaft gegenüberzustehen.
Saddek Kebir: Das Interessante ist, daß sogar in der als besonders vollständig geltenden Littmannschen Fassung der Geschichte von Schahriar, Schahsamèn und Schahrased, die nur 8 Seiten beträgt, eigenartige Lücken festzustellen sind. Ich habe mich natürlich gefragt, wieso vor allem die Geschichte Schahriars, des schrecklichen Bruders, so ausführlich dargestellt wird. Schahsamèn, dem dasselbe wie seinem Bruder widerfahren ist – seine Harenmsfrauen hatten ihn mit Sklaven betrogen – verfällt nicht in Tyrannei. Aber das Merkwürdige ist, daß wir gar nicht erfahren, was aus ihm wird. Die Erzählung beschäftigt sich ab einem bestimmten Punkt gar nicht mehr mit ihm. Nach dem unfreiwilligen Abenteuer der beiden Brüder mit einer sexuell herausfordernden Frau, ist von ihm einfach nicht mehr die Rede. Hat die Frau ihn verschluckt? Näher liegt, daß seine Geschichte zensiert worden ist. Bruno Bettelheim meint, daß dieser Strang der Geschichte vielleicht auch deshalb weggelassen wurde, weil die Brüder in Wirklichkeit als Einheit zu betrachten sind, als die zwei Möglichkeiten von Gut und Böse, die in uns allen stecken.
Sabine Kebir: Dieser Deutung ist zuzustimmen und zugleich zu betonen, daß sich hier wohl auch der hochkulturelle Aspekt von Tausendundeine Nacht zeigt. Gut und Böse wird hier nicht wie im Volksmärchen manichäisch gegenübergestellt, sondern als Ambivalenz aller Wesen gezeigt. Auf der erzählerischen Ebene kann indes Schahsamèns Verschwinden nur frustrieren. Also war es für uns reizvoll, zu erkunden, warum was zensiert worden ist. Aus meiner Sicht konnte der Grund der Zensur des Gegenspielers zu Schahriar nur darin liegen, daß er den Erzählern von irgendwann als absurd, unehrenhaft erschien, ein Schwächling, der, weil er keine Gewalt mehr ausüben wollte, seine Macht verlor. Ein solcher Herrscher – und auch das Nachdenken über ihn – war in der in Dekadenz verfallenden islamischen Zivlisation nicht mehr statthaft, der Tyrann dagegen wohl. Die Geschichte, die wir für Schahsamèn erfunden haben, hat natürlich viel mit heutigen Vorstellungen zu tun, warum und wie Macht abgegeben, wie Macht aufgelöst werden müßte.
Dagmar Galin: Aber falls Sie den Feministinnen im islamischen Raum nicht in den Rücken, wenn Schahsamèn sich am Ende immerhin noch zwei Haremsdamen leistet anstatt einer – wie es der Kampf um die Abschaffung der Polygamie erfordern würde?
Saddek Kebir: Über die Polygamie streiten sich die Bürger und Bürgerinnen in unserem Erzählcafé, in der Rahmenhandlung, die wir erfunden haben.
Sabine Kebir: In der eigentlichen Erzählung wollten wir alles vermeiden, was uns dem Hollywood-Kitsch angenähert hätte, wonach unser Schahsamèn dann eine ideale Frau hätte finden müssen. Das wäre auch historisch völlig falsch gewesen. Das Wichtigste ist doch, daß er am Ende seines Lebens nicht mehr in sozial erzwungenen menschlichen Beziehungen lebt, sondern mit den beiden Frauen, die ihn tatsächlich lieben. Es sind seine Jugendgespielinnen, die offenbar auch untereinander Freundinnen sind. Frauenfreundschaften im Harem, ja Bündnisse der Frauen gegen den Mann – sind übrigens nicht so selten gewesen.
Dagmar Galin: Die Gestalt der Schahrased, die sonst immer im Mittelpunkt steht, haben Sie aber ein wenig beiseite gerückt, jedenfalls über lange Strecken der Erzählung.
Sabine Kebir: Saddek hat sich tatsächlich – das hing sicher mit der Lage in der islamischen Welt zusammen – in seinen Erzählungen zunächst mehr für die Machtfrage interessiert, die in den sich gegenläufig entwickelnden Gestalten der beiden Sultansbrüder zum Ausdruck kam. Schahriar ähnelt einem der in der islamischen Welt noch immer vorhandenen Potentaten, während der Typus Schahsamèn eher selten ist. Schahrased erweckte auch deshalb nicht sofort unser Interesse, weil diese Gestalt in der allgemeinen Vorstellung Schahriar mit Sex, Erotik und irgendwelchen Märchen bezwungen hat. Das kam uns zunächst etwas billig vor. Durch ein eigentlich soziologisches Werk von Fatima Mernissi Scharased ist keine Marokkanerin wurden wir aber darauf gestoßen, daß Schahrased, bevor sie die Frau des Tyrannen wurde, sämtliche Bücher ihrer Zeit gelesen hatte. Das hat sich Fatima Mernissi nicht ausgedacht, das steht tatsächlich im Text, es wird nur meistens überlesen. Hier offenbart sich ebenfalls ein ausgesprochen aufklärerischer Geist von Tausendundeine Nacht: der Tyrann wird nicht mit Liebeskünsten, sondern mit Wissen besiegt. Es gelingt Schahrased, ihm die Welt zu erzählen, damit fesselt sie ihn. Daß sie auch eine sexuell erfahrene Frau gewesen sein muß, versteht sich. Neu von uns eingeführt, beziehungsweise wiedereingeführt wurde der Gedanke, daß sie auch eine Märtyrerin war. Einer typologischen Forschung habe ich entnommen, daß ihre Gestalt im nahöstlichen Mythentiegel letztlich mit der biblischen Esther in Verbindung zu bringen ist. Auch Esther rettete ihr Volk vor einem Tyrannen, indem sie ihn verführte und heiratete.
Dagmar Galin: Aber Schahrased tötet ihn nicht, zeugt sogar Kinder mit ihm.
Sabine Kebir: Das stellt ein ausgesprochenes politikwissenschaftliches Raffinement in Tausendundeine Nacht dar. Offenbar erkennt Scharased, daß das Problem der Tyrannei nicht mit einem Attentat zu lösen ist. Daß Schahriar ihr jede Nacht gebannt zuhört, weist darauf hin, daß sie ihn mit ihren Geschichten fesselt, in gewisser Weise infantilisiert und plant, über ihre eigenen Söhne selbst Herrschaft auszuüben. Letzteres steht nicht bei Littmann. Aber aus der merkwürdigen Konstellation, daß sie Kinder zeugt, liegt eine solche Schlußfolgerung eigentlich auf der Hand. Wenn man sich diese Situation praktisch vorstellt, hat sie damit ein lebenslanges Martyrium bewußt auf sich genommen.
Saddek Kebir: Die Märtyrerin ist allerdings nicht das, was wir an ihr am interessantesten fanden. Mit ihrer Intelligenz, ihrer Bildung, ihrem erotischen Selbstbewußtsein, aber auch mit ihrem Engagement für ihre Gesellschaft ist sie doch vor allem ein Symbol gerade der Verantwortlichkeiten, die Frauen in der islamischen Welt heute wahrnehmen wollen.
Dagmar Galin: Mich hat auch verwundert, daß Ihr Buch so ausführliche Phasen der religiösen Verzückung enthält, seitenlange Gebete der beiden Brüder. Auch gibt es eine Ebene des religiösen Dialogs mit Christentum und Judentum. Warum muten Sie Ihren Lesern so etwas zu?
Saddek Kebir: Diese Passagen sind mir mit am wichtigsten am ganzen Text. Ich habe mich gar nicht bewußt entschieden, sie zu schreiben. Ich mußte sie schreiben. Obwohl ich selbst nicht religiös bin, hat doch im vergangenen Jahrzehnt nicht nur einen dramatische religiöse Selbstverständigung aller Muslime stattgefunden, sondern auch ein dramatischer religiöser Streit zwischen unseren Religionen. Wenn man in Religionen auch Kulturen sieht, versteht man, warum ich das schreiben mußte. Schahriar und Schahsamèn führen auch zwei sehr verschiedene Formen ihrer Religion, ihres Islam vor. Mit Schahsamèns Gebeten wollte ich zeigen, daß es auch eine friedliche, den Weg zu Gott behutsam erkundende Art des Betens gibt. Und natürlich wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, ausführlich darzulegen, daß ich Juden und Christen als unsere Cousins empfinde, einen Status, den wir viel öfter hervorheben müßten.
Dagmar Galin: Darf man fragen, wer von Ihnen was geschrieben hat?
Sabine Kebir. Sie dürfen. Aber beantworten können wir das nicht. Allerdings haben wir die verschiedenen Stadien der Ausarbeitung – die erste war ganz von Saddek – aufbewahrt, da können sich einmal Philogen dran setzen. Der Ausgangspunkt waren Saddeks seit zwanzig Jahren sich entwickelnden Erzählungen von Schahriar und Schahsamèn sowie einige ebenfalls von ihm selbst weiter entwickelten Einzelmärchen, die auch hier eingeflochten wurden. Beim Über- und Ausarbeiten seiner ersten Version stellte ich fest, daß er sich für meinen Geschmack zu wenig für Schahrased interessiert hatte und das Verschwinden Schahsamèns mit dem Argument von Bettelheim einfach als gegeben akzeptierte. Diese beiden Stränge stammen dann also eher von mir. Auch stellte das Erzählcafé, in das in der Nacht der Offenbarung die Figuren aus Tausendundeine Nacht auf fliegenden Teppichen gelangen, zunächst nur den Anfang dar. Ich fand es reizvoll, immer wieder ins Café zurückzukehren, d.h. heutige Muslime und Musliminnen über die Erzählungen Assams diskutieren zu lassen. Aber wir haben alles immer vorher abgesprochen, eine ungefähre Entwicklungslinie zusammen festgelegt. Auch hat Saddek dann wieder meine Gesamtfassungen überarbeitet, ehe ich wieder darüber ging. Das hat eine ganze Weile gedauert. Widersprüche mußten wir bis in die Druckfassung hinein eliminieren. Ein paar unlogische Stellen blieben bewußt erhalten, weil sie uns eben gefielen – siehe die Pfauenhenne, die sich herrlich aufplustert. Herrlich aufplustert sich aber nur der männliche Pfau. Ich fand es aber eine köstliche Idee, daß die Frau Harun al Rachids als Pfauenhenne auftritt und daß sie sich natürlich auch aufplustert. Solche Ungereimtheiten gehören zu den harmlosen Phantasierechten des Märchens. Ähnlich chaotisch geht es bei uns mit der Geographie zu. Da schaut es aber in Tausendundeine Nacht selbst nicht besser aus. Schahriar beherrscht da wirklich irgendwelche Teile von China und Indien, während Schasamèn der Herrscher von Samarkand zu sein scheint. Bei uns liegt sein Reich eher auf der arabischen Halbinsel. Ich wollte unbedingt eine Begegnung mit einer Königin aus dem Jemen herstellen, einer Nachfolgerin der Königin von Saaba. Historisch ist das alles undenkbar, denn das sabäische Königreich existierte zur Zeit, in Tausendundeine Nacht spielen, gar nicht mehr. Der Staudamm, der den berühmten Garten ermöglicht hatte, war bereits zerstört. Die Szene mit dem Koch der Königin - wie übrigens alle Abschnitte über das Essen – ist wieder von Saddek.
Dagmar Galin: Waren Sie auch manchmal uneins, wie es weitergehen sollte?
Sabine Kebir: Eigentlich kaum. Ich habe aber zum Beispiel um Auswechselung der Geschichte gebeten, mit der Schahrased ihren furchtbaren Märtyrerinnendienst an Schahriar beginnt. Die ursprüngliche Geschichte war dazu wenig geeignet wie übrigens auch die, mit der sie in den echten Tausendundeine Nacht beginnt. Auch war ich am Anfang von Saddeks Idee der beiden Masseusen Schahriars nicht so begeistert. Aber als ich sie dann nach seinen Vorstellungen niederzuschreiben begann, gefiel sie mir immer besser und ich hatte dann auch eigene Einfälle dazu. Umgekehrt hat auch Saddek fast alle meine Vorschläge und Ideen akzeptiert.
Saddek Kebir: Wir haben eine lange gemeinsame Erfahrung hinter uns, sowohl in der wirklichen islamischen Welt als auch in deren Phantasiewelt. Daran liegt es wahrscheinlich, daß wir oft dieselben Sachen interessant oder komisch finden.