Interview mit Sabine Kebir, geführt von David Salomon zu:
Mein Herz liegt neben der Schreibmaschine

Ruth Berlaus Leben vor, mit und nach Bertolt Brecht

Editions Lalla Moulati, Algier 2006

D. S.: Sie haben seit dem Erscheinen Ihres Buchs „Ein akzeptabler Mann?“ 1987 immer wieder zu Bertolt Brechts Frauen gearbeitet. Es erschienen Ihre Biographien über Elisabeth Hauptmann und Helene Weigel, ihre jüngste Arbeit behandelt Ruth Berlau. Nicht erst seit John Fuegis Buch „Brecht & Co“ wird immer wieder die Auffassung vertreten, Brecht habe seine Mitarbeiterinnen abhängig gemacht und ausgebeutet. Ähnliche Ansichten vermittelte auch Jan Schüttes Film ´Abschied`. War Ruth Berlau ein „Opfer Brechts“?

Die weltweit kursierenden Bilder der weiblichen Opfer Brechts sind Fiktionen, konstruiert aus Halbwissen, Anekdoten und Phantasie. Der Film ´Abschied` führt Anekdötchen aus mindestens sieben Jahren auf den Zeitraum weniger Tage vor Brechts Tod zusammen. Er will die erotische Dramatik bestätigen, die das Publikum durch John Fuegis Brecht-Biographie ´Leben und Lügen Bertolt Brechts` und andere Publikationen schon zu kennen meint. Wegen seiner guten  Darsteller wirkt der Film glaubhaft. Gerade in seinen unerhörtesten Punkten entspricht er jedoch nicht den Fakten. Z. B. wurde Wolfgang Harich Monate nach Brechts Tod verhaftet. Er war nie Gast in Buckow, auch nicht zusammen mit seiner früheren Frau Isot Kilian, die Brechts letzte Freundin war. Daß der Film Helene Weigel als Zuträgerin der Stasi zeigt, ist eine Erfindung. Auch die Szene, in der die Weigel ihren am Eßtisch sitzenden ´Konkurrentinnen` verbittert vorrechnet, wie viele Jahre sie schon für sie gekocht hätte, ist eine Fiktion von Westlern, die sich den Brecht-Clan einfach als Vorläufer der eigenen Schmuddel-Kommunen von 1968 denken. In Wirklichkeit war der Clan eher ein Vorläufer der heutigen Single-Gesellschaft. Wenn es finanziell irgend möglich war, lebten diese Leute unabhängig voneinander. Brecht selbst meinte am besten arbeiten zu können, wenn er ganz allein lebte. Über sein reales  Sexleben gibt es kaum Quellen, aber eine ungeheuer aufgeblasene öffentliche Phantasie. So sprechen die FBI-Akten in den USA nur von einer „mistress“ namens Ruth Berlau. Obwohl ich mich seit vielen Jahren mit dem Thema ´Brecht und die Frauen` befasse, habe ich nur sehr wenige und im Grunde vage Informationen zum Thema Sex gefunden. Viel interessanter war für mich auch Brechts Philosophieren darüber. Denn er war Teil der Bewegung von Künstlern und Intellektuellen, die mit Freud verstanden hatten, daß Sexualität und Moral nur über den Preis von Unterdrückung – vor allem der Frauen – in Übereinstimmung zu bringen sind. Bei Homosexuellen werden mehrere Partner heute als etwas Normales gesehen. Daß Brecht versucht hat, als Heterosexueller mit diesem Problem sowohl im Leben als auch in der Theorie etwas offener umzugehen, habe ich immer für einen legitimen Avantgardismus gehalten. Leider war es seit dem Ende der Weimarer Republik in Deutschland nicht möglich, damit so offen und kreativ zu verfahren, wie es Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre in Frankreich tun konnten.

Ich wundere mich darüber, wenn viele es heute noch für unmoralischer halten, daß Brecht  zeitweise Liebesbeziehungen zu mehreren Frauen unterhielt, anstatt regelmäßig das Bordell zu besuchen. Die sexuelle Selbstbestimmung der Individuen, die zu seinen Wertvorstellungen gehörte, impliziert eine aktive Rolle der Frauen auch in der Werbung, aber natürlich auch ihr  Recht, abzulehnen. Sich überschneidende Partnerschaften bedeuteten bei Brecht keineswegs fehlende soziale Verantwortung, was sich gerade am Fall Ruth Berlaus gut beobachten läßt. Sie verkörperte den neuen, aktiven Frauentyp. Es war Brecht, der sich zweieinhalb Jahre einer Liebesbeziehung versagte. Die spätere Enge und Unauflöslichkeit der Beziehung beruhte – was viele Brecht-Biographen unbeachtet lassen – auf Zwängen des Exils, aber auch auf einer besonderen psychischen Labilität Ruth Berlaus, die Brecht zunächst für leicht behebbar hielt. Sie litt an Angstzuständen und Konzentrationsschwäche, die sie hinderten, ihre Talente als Schauspielerin, Regisseurin, Autorin und Fotografin voll zu entfalten. Brecht glaubte, das Leiden ließe sich durch bestimmte Übungen, durch Einbindung in Kollektive u.s.w. überwinden.  

D. S.: Im Zentrum ihrer Analyse dieser Arbeits- und Liebesbeziehung steht die Behauptung, Ruth Berlau habe an einer schweren psychischen Erkrankung gelitten.  

Durch die vielen Quellen, die ich durchforscht habe, wurde ein Krankheitsbild sichtbar, das heutige Psychiater wahrscheinlich als Borderline-Syndrom diagnostizieren würden. Es wird nicht in erster Linie auf das Versagen von Lebenspartnern zurückgeführt. Man glaubt, daß es durch genetische Veranlagung oder auch durch schwere Erlebnisse wie Mißbrauchserfahrung in der Kindheit entsteht. Eine familiäre Disposition kann bei Ruth Berlau unterstellt werden, da ihre Schwester Edith an einer ähnlichen Erkrankung litt. Nach einem Selbstmordversuch aus Liebeskummer wurde sie für schizophren erklärt und 15 Jahre zunächst ´lebenslänglich` in  eine Nervenklinik gesperrt. Heute würde man anders diagnostizieren und anders behandeln. Charakteristisch für das vielschichtige Krankheitsbild der Borderliner ist, daß sie  mit Konzentrationsstörungen und mangelndem Identitätsgefühl aufwachsen. Letzteres versuchen sie als Erwachsene zu kompensieren in symbiotischen Liebesbeziehungen zu Menschen, die sie für stärkere Persönlichkeiten halten. Aus einem Jugendtagebuch von Ruth Berlau geht hervor, daß der symbiotische Liebeswunsch auch ihre Ehe mit einem sehr viel älteren und angesehenen Arzt prägte, der sich ihrer Meinung nach ihr nicht intensiv genug zuwandte. Sogar auf seine Kinder aus erster Ehe war sie eifersüchtig. Obwohl er erst Professor wurde, nachdem sie sich von ihm getrennt hatte, nannte sie sich später oft „Ehefrau von Professor Robert Lund“. Sie kompensierte damit etwas, was ihr – so meinte sie – selbst fehlte. Auch ihre Liebhaber mußten anerkannte Persönlichkeiten sein, weshalb sie sich in ihren späten autobiographischen Aufzeichnungen mehrfach als „Snob im Bett“ bezeichnete.

Was an ihr hat Brecht denn  angezogen?

Ruth Berlau war Teil einer Linksbewegung der damaligen dänischen Intellektuellen. Selbst viele Künstler am Königlichen Theater am Kongens Nytorf waren antiroyalistisch und sogar sowjetfreundlich eingestellt. Das Theater stellte Räume, Requisiten und Kostüme für Arbeiterlaientruppen zur Verfügung. Manche königliche Schauspieler traten mit Rezitationen oder Songs vor oder nach Aufführungen solcher Truppen in Arbeiter- oder Seemannsclubs auf. Berlau, die sich als Schauspielerin wegen ihrer Konzentrationsprobleme nicht wohl fühlte, führte in solchen Arbeiterlaientrupps Regie. Sie selbst hat immer auf die wertvollen Verbindungen hingewiesen, die sie Brecht ab 1933 in die dänische Künstler- und Laienszene geebnet habe. Dazu muß gesagt sein, daß ihn diese Szene schon vor ihr kontaktiert hatte und daß er auch von anderer Seite – vor allem von der damals weltberühmte Autorin Karin Michaelis – substantielle Hilfe bekam. Aber nachdem 1935 klar war, daß professionelle Bühnen auf Druck Deutschlands und dänischer Nazis keine Brecht-Stücke mehr aufführen würden, waren dann Berlaus Inszenierungen von Szenen aus ´Die Mutter`, ´Die heilige Johanna der Schlachthöfe`, ´Die Gewehre der Frau Carrar und ´Furcht und Elend des Dritten Reiches`, die einzige Form, in der sein aktuelles Werk in seinem Exilland zur Geltung kam.  Zur Liebesbeziehung kam es, nachdem die Inszenierung der ´Mutter` mit Arbeiterlaien zustande gekommen war. Es war aber nicht nur Dankbarkeit, die Brecht an Ruth Berlau anzog. Sie stellte das Problem der Frauen, ein selbstbestimmtes Geschlechtsleben führen zu können in besonders scharfer und widerspruchsgeladener Form. Mit ihrem Roman ´Videre` und der dann schon mit Brecht zusammen geschriebenen Novelle ´Regen` über die Schwester packte sie das Problem auch mit großem Mut literarisch an. Welche Relevanz diese Fragestellung für Brecht hatte, zeigt sich darin, daß der damals entstehende Weltanschauungskatechismus, der sich als ´Me-ti`, bzw. ´Buch der Wendungen` gegen das sich immer dogmatischer präsentierende Theoriegebäude des Sowjetmarxismus wandte, um eine Abteilung ´Geschlechterverhältnisse` erweitert wurde: die für Ruth Berlau geschriebenen Lai-Tu-Aphorismen.

D. S.: In Brechts oftmals autoritär wirkenden Texten für Ruth Berlau sehen Sie ein Indiz dafür, dass er so etwas wie eine behavioristische Verhaltenstherapie versucht habe, die deshalb scheitern musste, weil eine Liaison von Patient und Therapeut fatale Folgen haben kann. Wie belegen Sie die Thesen?

In einer Zeit, in der die faschistischen Bewegungen unter dem Vorwand der Volkshygiene versuchten, den geistigen Boden für Euthanasie psychisch Kranker zu schaffen, hing Brecht der entgegengesetzten Strömung an, die Pathologisierung und Isolierung von Menschen mit psychischen oder sozialen Anomalien ablehnte. Schon allein, was als normal oder unnormal gilt, war aus dieser Sicht fragwürdig. Solche Menschen sollten in die normalen Lebens- und Arbeitsprozesse einbezogen bleiben. Auf Berlaus ständige Angst, dasselbe Schicksal wie ihre Schwester erleiden zu müssen, erwiderte er, daß sie Konzentration und ein Verhalten lernen könne, die das verhindern würden. „Lehre mich“, sagte Lai-tu zu ihrem Lehrer Kin-Je. Es ging um nicht weniger als die Bearbeitung ihrer Alkoholprobleme und einer damit offenbar im Zusammenhang stehenden Sexsucht. In dem Gedicht ´Wenn sie trinkt fällt sie in jedes Bett` (ca. 1937) zeigt sich, daß Brecht diese Phänomene als Drogen gegen ihre Ängste verstand. Die beiden schlossen eine Art Vertrag, der einem Therapievertrag ähnelte. Er schrieb Brecht allerdings mehr Autorität und Verantwortung zu, als er zunächst ahnte. Berlaus Konzentrationsvermögen meinte er zu stärken, indem er ihr – wesentlich intensiver als Margarete Steffin – beim Schreiben half und sie in sein ´Kollektiv` einbezog. Er unterschätzte aber die genetischen und/oder famliengeschichtlichen Ursachen psychischer Leiden und damit auch ihre Stärke. Vor allem war er sich  nicht bewußt, daß er durch die Parallelität von Therapie- und Liebesverhältnis Ruth Berlau nicht selbständiger, sondern abhängiger machte – und zwar von sich selbst. Zunächst löste sie sich aus ihrer unglücklichen Ehe und stabilisierte sich beruflich. Doch schon im finnischen Exil zeigte sich, daß sie nun ohne die ausschließliche Zuwendung Brechts nicht leben konnte. Nachdem sie ihre selbständige Arbeit und andere Freundschaften aufgegeben hatte, verkraftete sie es nicht mehr, daß er sich weder von Helene Weigel noch von Margarete Steffin lossagte. Der erste massive Krankheitsschub äußerte sich in ständigem Wechsel von Depressivität und Wut- und Haßausbrüchen sowie etlichen Skandalen. Indem sie offen als seine Geliebte auftrat, setzte sie nicht nur die Solidarität der damals wohl recht prüden Finnen mit der Gruppe aufs Spiel, sondern schädigte die arme Steffin und natürlich Brechts Familie schwer. Diese Konstellation blieb bis zu Brechts Tod erhalten.

D. S.: Wie sah Brechts ´Therapie` aus und welche Konsequenzen zog er aus ihrem Scheitern?   

Als er Ruth Berlau 1933 kennenlernte, stand er bereits dem Behaviorismus nahe – den Anfängen der Verhaltenslehre und –therapie des Amerikaners John Broadus Watson, für den Freuds Psychoanalyse nicht ausreichte. Mit Watson meinte Brecht, daß neues Verhalten nicht nur aus der Analyse der Vergangenheit entstünde, sondern auch praktisch eingeübt werden müsse. So hielte er die mit sich selbst unzufriedene Berlau an, mehr Geduld und Systematik beim Schreiben, beim Theaterspielen, bei all ihren Beschäftigungen aufzubringen. Daß seine Ratschläge Therapiecharakter hatten, zeigt sich besonders daran, daß es notwendig war, ihr gebetesmühlenartig einen regelmäßigen Tagesablauf nahezulegen, oft auch durch Briefe und Telephonanrufe. In Finnland stellte sich heraus, daß seine „Therapie“ nur wirkte, wenn er ihr nahe war. Borderliner können an die Zuneigung der Liebespartner nur glauben, wenn sie sich im selben Raum befinden. Sind sie aus dem Blickfeld, entstehen bohrende Zweifel. Daher wurde Ruth Berlau damit nicht damit fertig, daß er die Beziehungen zu Helene Weigel und Margarete Steffin nicht abbrach und nicht einmal abwertete. Das Exil und die materielle Abhängigkeit, in die sie dann auch geriet, verstärkten ihr Leiden. In einer Journalnotiz von 1942 befürchtete Brecht, durch ihr Verhalten die eigene Arbeitsfähigkeit einzubüßen. Außer Frage stand, sie zu verlassen. Aber er schlug nun oft einen autoritären Ton an. Der half aber bestenfalls kurzfristig. Borderline-Kranke sind auch in der tiefsten Depression hellsichtig. Berlau erfaßte genau die Schwierigkeiten, in die sie Brecht brachte. Sie war selbst sehr unglücklich darüber, daran nichts ändern zu können, obwohl sie es sich immer wieder vornahm.

Effektive Diagnosen und Therapien ihres Leidens gab es damals nicht. Ihr Aufenthalt in einer Nervenklinik 1946 in Amtyville bei New York war die Folge des Todes des gemeinsamen Kindes. Der Klinikaufenthalt traumatisierte sie so, daß ihr später auch unter vergleichsweise komfortablen Bedingungen und qualifiziertem medizinischem Beistand in der DDR nicht mehr zu helfen war.  Sie entzog sich stets viel zu früh der Behandlung und lehnte auch die – aus dem Westen beschafften – fortgeschrittensten Medikamente ab. Noch heute bestehen Heilungschancen für Borderliner nur bei frühem Einsetzen der Einzeltherapie, auf die eine Gruppentherapie folgen sollte. Heute erkennt man auch Brechts Fehler deutlicher. Aber aus der Verantwortung hat er sich nicht gestohlen. Er zwang sich, seine Familie und später auch sein Theater, diese schwierige Person permanent zu akzeptieren. Entgegen von Gerüchten hat Helene Weigel gegenüber Ruth Berlau über weite Strecken und auch nach Brechts Tod Toleranz geübt und sie auch materiell unterstützt.            

D. S.: Sie betonen die konstitutive Bedeutung der Kollektivität für „Brechts Arbeiten“ und sehen darin ein häufiges Paradigma moderner Literaturproduktion. Welchen Anteil hat Ruth Berlau?

Es entsprang Berlaus Konzentrationsschwäche, daß sie zeitlebens weder die Schriftform des Dänischen noch des Deutschen beherrschte, obwohl sie den tiefen Wunsch hatte zu schreiben. Bevor sie Brecht kennenlernte, hatte sie Zeitungsreportagen und einen Roman publiziert. Bei den Reportagen hatte der erotisch von ihr begeisterte namhafte Publizist Svend Borberg geholfen, bei dem Roman der dänische Dichter Otto Gelsted und ihr Freund Mogens Voltelen. Die beiden letzteren haben später auch an den Übersetzungen von Brecht-Stücken mitgearbeitet, von denen  Ruth Berlau bisweilen behauptete, sie allein gemacht zu haben. Mit Brecht zusammen schrieb sie Novellen, in denen es darum ging, Lehren aus dem Schicksal der Schwester zu ziehen. Aber natürlich hat sie auch Anteil an Brechts Werken, der freilich nicht leicht zu umreißen ist. Es fehlten ihr Bildung und Konzentration, um ähnlich an Stücken mitzuarbeiten wie Steffin. Als Dialogpartner war sie Brecht beim Schreiben aber doch wichtig. Ich denke besonders an ´Der gute Mensch von Sezuan`, der durch die Radikalisierung im feministischen Sinne, die sie in die Diskussion brachte, sicher beeinflußt wurde. Interessant ist, daß parallel zu diesem Stück ein Hörspiel über Flauberts ´Madame Bovary` entstand, in der die Verwirklichung eines selbstbestimmten weiblichen Geschlechtslebens ähnlich gestellt ist. Natürlich waren auch Berlaus Inspirationen beim ´Kaukasischen Kreidekreis` von Bedeutung, der geschrieben wurde, als sie selbst schwanger war.  

Während des Exils arbeitete Brecht morgens zunächst allein, dann einige Stunden mit Steffin. Den Abend verbrachte er mit seiner Familie. Nachmittags besuchte er Ruth Berlau. In diesen Stunden entwarf er mit ihr Pläne für Novellen, Hörspiele u.s.w., die sie selbst fertigstellen sollte. Teilweise diktierte er ihr auch Textteile in die Maschine, die sie gleich ins Dänische übersetzte oder deutsch eintippte. U. a. am Sprachwechsel auf solchen Blättern erkennt man, daß Brecht diktierte. In den USA entstanden in dialogischer Arbeitsweise eine Reihe von Filmszenarien. Berlaus Typoskripte sind größtenteils als Brecht-Diktate erkennbar, aber nicht als Brecht-Werke anerkannt. Als solche gelten nur Manuskripte, die von Brecht eigenhändig geschrieben oder getippt wurden. Dieser Fundus von meist fragmentarischen Novellen, Filmen und Hörspielen ist von großem Interesse, aber weitgehend unbekannt. Ich meine aber ziemlich genau zeigen zu können, daß Berlaus Anteil hier vor allem in der Situationskomik lag. Hätte sich Brecht bei den großen Axen mehr nach ihren etwas kitschigen Vorstellungen von Liebesgeschichten gerichtet, die denen von Hollywood viel näher standen als seine, hätte er die Filmentwürfe womöglich besser verkauft.

Zu beachten ist, daß sie in seine Arbeitskollektive nicht nur wegen ihrer Anregungen integriert war, sondern auch in der Hoffnung, dadurch ihr Leiden zu mildern. Sie wurde immer mehr zur Belastung, die aber akzeptiert wurde. Gemeinsames Schreiben läßt sich auch in der DDR belegen. Berlau ist als Mitarbeiterin an Die Tage der Commune und der Hofmeister-Bearbeitung genannt. Für das erste Stück sammelte sie Material, beim zweiten scheint sie engagiert mitdiskutiert zu haben, denn sie bezog die sexuelle Problematik des Stücks schließlich auf sich selbst, was zu einem Klinikaufenthalt führte. Es entstanden auch Texte über ihre Arbeitserfahrungen mit Inszenierungen nach Modellen des Berliner Ensembles an anderen Bühnen. Brecht las und korrigierte diese Notizen, aber auch ihre belletristischen Versuche. Es gibt Artikel Ruth Berlaus in DDR-Zeitungen, von denen anzunehmen ist, daß sie von Brecht oder vom ´Kollektiv des Berliner Ensembles´ in eine druckbare Form gebracht wurden. Ganz selbständige Arbeiten entstanden kaum. Sie scheiterte bei ihren zwanzigjährigen Versuchen, ein Buch über ihn zu schreiben. Es ist für Borderliner typisch, daß sie sich nicht für eine oder eine überschaubare Zahl von Perspektiven entscheiden können, sondern alles immer wieder neu beurteilen. Dadurch wird schwerlich etwas fertig. Natürlich ist die Frage interessant, weshalb sie auch nach Brechts Tod immer wieder Menschen fand, die ihr bei Artikeln halfen. Ich meine, daß es gerade dieser ständige Perspektivwechsel war, der sie im Gespräch äußerst anregend machte. Auch Brecht  scheint genau das an Ruth Berlau angezogen zu haben. Schließlich ist die Fähigkeit zum Perspektivwechsel eine Voraussetzung der Dialektik.  

D. S.: Kommen wir auf John Fuegi zurück. Obwohl die schlampige Recherche seines dickleibigen Buchs mittlerweile aufgedeckt wurde und der Verdacht naheliegt, dass es sich bei seiner These, Brecht habe die Frauen mit „sex for text“ bezahlt, nicht um einen Irrtum, sondern um eine böswillige Lüge handelt, sind seine Thesen nach wie vor populär. Oftmals tritt diese „Brechtkritik“ mit einem feministisch-emanzipatorischen Impetus auf. Wie antworten Sie darauf?

Es war kein gutes Zeugnis für das Niveau der Emanzipationskultur, wenn eine Borderlinerin zur Ikone werden konnte. Mir scheint aber, daß der Typ des Feminismus, der mehr auf symbiotische Beziehungen als auf die Autonomie der Personen setzt, allmählich überwunden wird. Angesichts dessen, daß eine lebenslange Liebessymbiose für die meisten Menschen unrealistisch ist, habe ich dieses Konstrukt immer für ein triviales Element der Massenkultur gehalten, das bei jungen Menschen falsche Erwartungen weckt. Glücklicherweise gibt es jetzt mehr Brecht-Forscherinnen, die die Frauen nicht von vorn herein als Opfer, sondern als eigenverantwortliche Individuen sehen. Auf dem kürzlich in Augsburg stattgefundenem Symposium ´Brecht und der Tod` haben Dorothee Ostmeier und Simran Karir den Sonettaustausch zwischen Margarete Steffin und Brecht aus dieser Sicht behandelt. Auch Anna Kuglis Buch über Brechts Frauengestalten in der Dramatik kommt zu völlig anderen Ergebnissen als frühere Behauptungen, Brechts Ideal sei zum einen die  ´Hure` und zum anderen die ´Mutter` gewesen – die  übrigens am vehementesten von Männern vertreten wurden.

Sabine Kebir: Mein Herz liegt neben der Schreibmaschine. Ruth Berlaus Leben vor, mit und nach Bertolt Brecht, Editions Lalla Moulati, Algier 2006, 216 Seiten, 25,00 Euro.